Über die Rolle der Wissenschaft in Krisenzeiten, Bullshitting und das ideale Feuilleton

Der Philosoph und Feuilletonist Uwe Justus Wenzel beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Problematisch sei, sagt Wenzel, wenn politische Entscheidungen auf die Wissenschaft abgewälzt würden, wie es nicht zuletzt in Krisenzeiten geschieht. Dies habe auch jene Skeptiker befördert, die grundsätzlich alles in Zweifel setzen und gegen wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso revoltieren wie gegen eine Politik, die sich auf eben jene Erkenntnisse beruft.

Über Uwe Justus Wenzel

Der Philosoph Uwe Justus Wenzel war von 1995 bis 2017 Feuilleton-Redakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“. Er war zudem als Lehrbeauftragter an der ETH Zürich im Bereich Philosophie und Geschichte des Wissens tätig. Wenzel war von 2010 bis 2018 Mitglied des Vorstands der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). 2018 bis 2023 arbeitete an der ETH Zürich als Senior Scientist in einem Forschungsprojekt zum Thema „Science and Philosophy between Academia and the Public Sphere“. Uwe Justus Wenzel lebt in Basel und im Wallis. Zuletzt von ihm erschienen sind:

  • Von Adorno bis Wittgenstein. Philosophische Profile. Schwabe, Basel 2018
  • Das Wagnis der Torheit. Christliche Antworten – philosophische Fragen. TVZ / Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2018 (französisch: L’audace de la folie. Réponses chrétiennes, questions philosophiques. Labor et fides, Genève 2019)
  • Zeit – in Gedanken erfasst. Philosophische Glossen. Schwabe, Basel 2020

Sie haben sich im Rahmen eines ETH-Projekts mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit befasst. Worum ging es da genau?

Das Projekt hatte viele thematische Facetten. Eine, die für unser Gespräch relevant sein könnte, würde ich knapp so umreissen: Wissenschaftliches Wissen ist nicht selten, sondern typischerweise vorläufiges Wissen, es steht unter dem Vorbehalt seiner Korrektur. Darum kann es das Bedürfnis nach Gewissheit und Eindeutigkeit nicht immer befriedigen, das sich in der Öffentlichkeit, aber auch bei staatlichen Entscheidungsträgern meldet, sobald politische Kontroversen mit Wissensfragen verknüpft sind. Das hat die Corona-Pandemie gezeigt, aber nicht nur sie.

Gerade in Krisenzeiten erleben wir, dass Wissenschafter öffentlich als Erklärer auftreten. Welche Rolle wird ihnen in solchen Momenten zuteil?

Es ist nicht nur eine einzige Rolle, in der sie öffentlich auftreten, würde ich sagen. Es sind ­– mindestens – zwei Rollen: zum einen die des Experten, der zu Rate gezogen wird und beispielsweise erklärt, welches der Stand der Erkenntnis bei der wissenschaftlichen Erforschung eines Virus ist, und zum anderen die Rolle des intellektuellen Zeitgenossen, der sich – wie „Nicht-Experten“ es auch tun – zu Fragen von „öffentlichem Interesse“ zu Wort meldet und beispielsweise bestimmte politische Massnahmen zur Pandemiebekämpfung kommentiert. Es kann unter Umständen zu einer Art Rollendiffusion kommen, die ich nicht unproblematisch finde.

„Wer als wissenschaftliche Expertin, und sei es implizit, politische Ratschläge gibt, kann instrumentalisiert werden, sei es als Prophetin, sei es als Sündenbock.“

Inwiefern ist das problematisch?

Das Problematische rückt in den Blick, sobald wir nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik – Stichwort „Politikberatung“ – fragen. Schlicht und grundsätzlich formuliert: Soweit politische Fragen mit Problemen des Wissens zu tun haben, spricht nichts dagegen, sondern alles dafür, bei deren Beantwortung auch auf wissenschaftliches Wissen zurückzugreifen. Aber es kommt auf das „Soweit“ an – und darauf, was „zurückgreifen“ bedeutet. Antworten auf die Frage, was wir wissen und was wir wissen können, sind als solche keine Antworten auf die Frage, um deren Beantwortung im Raum des Politischen immer auch gestritten wird, die Frage nämlich: Wie wollen wir leben und zusammenleben? Wissenschaftliche Erkenntnisse, zumal wenn es sich um lediglich vorläufige Erkenntnisse handelt, lassen sich nicht „eins zu eins“ – reibungslos und logisch zwingend – in politische Entscheidungen übersetzen. Da politische Repräsentantinnen und Repräsentanten eines Gemeinwesens also selbst in Situationen, in denen ohne wissenschaftliche Expertise gar nicht vernünftig entschieden werden kann, nolens volens einen Handlungsspielraum haben, sollten sie ihn verantwortungsvoll nutzen.

Das heisst auch: Sie sollten die politische Verantwortung für die Entscheidungen nicht auf die Wissenschaft abwälzen wollen. Umgekehrt sollten Wissenschafterinnen und Wissenschafter, wenn sie um „Beratung“ gebeten werden und auch noch öffentlich in Erscheinung treten, darauf gefasst sein, dass sie in die Grauzone einer Rollendialektik geraten können: Wer als wissenschaftliche Expertin, und sei es implizit, politische Ratschläge gibt, kann instrumentalisiert werden, sei es als Prophetin, sei es als Sündenbock.

Aber ist es denn nicht die Aufgabe von Wissenschaftern, die als Experten zu Rate gezogen werden, politische Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen?

Doch, wissenschaftliche Experteninnen und Experten sollten auch Handlungsmöglichkeiten aufzeigen – zumindest in solchen Fällen, in denen Wissenschaft und Politik sozusagen von der Sache her verflochten sind, wie auch in der Klimadebatte. Idealerweise zeigen sie aber verschiedene Handlungsmöglichkeiten auf, in Form von hypothetischen Szenarien: Was geschieht mit welcher Wahrscheinlichkeit, wenn wir dies tun oder jenes tun, was geschieht, wenn wir dies oder jenes nicht tun?

Und natürlich ist es vernünftig, in entsprechenden Fällen politische Entscheidungen auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu treffen. Aber solche Entscheidungen müssen im politischen Diskurs legitimiert werden und die etablierten politischen Entscheidungsverfahren durchlaufen – im politischen Gremienstreit und in der politischen Öffentlichkeit. Soll auch heissen: Politische Entscheidungen können ihre demokratische Legitimität nicht durch Rekurs auf die Wissenschaft erhalten, nicht – oder jedenfalls: nicht nur und gewiss nicht „in letzter Instanz“ – durch den Hinweis darauf, dass die Wissenschaft dies oder das festgestellt habe. Versuchen Politiker dergleichen dennoch, tragen sie zu Erosion der demokratischen Institutionen unserer Gesellschaft bei. Und Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die ihnen dazu Hand bieten, ebenso.

Nun stand die Wissenschaft ebenso wie die Politik während der Pandemie ja gewissermassen unter Erwartungsdruck.

Der Erwartungsdruck stieg, weil die Orientierungsbedürfnisse der Menschen wuchsen. Ebendas macht Krisensituationen unter anderem aus. Aber Orientierungsbedürfnisse können sich sehr verschieden artikulieren, würde ich sagen. Sie können sich in dem Verlangen nach Gewissheit manifestieren, aber auch in der Bereitschaft, alles anzuzweifeln.

Annahmen in Zweifel zu ziehen, ist eigentlich sehr wissenschaftlich. Aber das meinen Sie nicht. Oder?

Methodischer Zweifel ist in der Wissenschaft als Verfahren institutionalisiert. Aber das hat in der Öffentlichkeit kein direktes Pendant. In der Regel ist in dieser Sphäre das Zweifeln nicht methodisch diszipliniert, sondern knüpft an allen möglichen politischen oder weltanschaulichen Ein- und Vorstellungen an.

Kann man sagen, dass die Wissenschaft mit zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen hat?

Während der Corona-Krise wurde fortlaufend neues, vorläufiges wissenschaftliches Wissen generiert – und das in einem vorher kaum gekannten Ausmass. Mitunter wurden auch vermeintliche Erkenntnisse publiziert, ohne die üblichen wissenschaftlichen Peer-Review-Verfahren durchlaufen zu haben. Es wurden Studienergebnisse in einer Vorläufigkeit präsentiert, wie es das vorher nicht gegeben hatte – und sie wurden, durch Ergebnisse andere Studien, wieder infrage gestellt. Die Interpretationsspielräume waren, auch für „wissenschaftliche Laien“ ersichtlich, gross. Kein Wunder mithin, dass die Akzeptanz wissenschaftlicher Aussagen bzw. der auf solche Aussagen sich stützenden Massnahmen bei einem Teil der Bevölkerung gering war.

Dieses sichtbare Auftreten der Wissenschaftler in einem politischen Prozess hat also dazu beigetragen, dass sich Fronten verhärtet haben?

In gewisser Weise ja. Es gibt inzwischen soziologische Untersuchungen, die das beschreiben. Eine davon stammt von Alexander Bogner. In seinem Buch „Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet“ spricht er von einem „Aufstand gegen das rationalistische Weltbild“ der Wissenschaften. Dieser Aufstand wurde während der Corona-Krise geprobt, ist aber auch in puncto Klimaforschung im Gang. Der Zeitdiagnostiker sieht eine „gegenaufklärerische Graswurzelbewegung“ am Werke, die nicht nur vom Bedürfnis nach Orientierung oder nach einfacher Erklärung lebt, sondern von einem Freiheitsimpuls, der sich in einer Art verwilderter Selbstbehauptung äussert:  Selbstbehauptung gegen die Kolonisierung der Lebenswelt durch „besserwisserische Wissenschaft“. Und gleichzeitig gegen eine Politik, die mitunter auf wissenschaftliche Erkenntnisse verweist, um die vermeintliche Alternativlosigkeit dessen zu unterstreichen, was sie als politische Massnahmen in der Krisensituation verordnet.

Vielleicht könnte man auch von revoltierendem Trotz sprechen. Ich kann mir ohne eine solche Komponente kaum erklären, wie „Skeptiker“ etwa im Fall der Klimakrise, in einem Fall erdrückender Beweislage, einfach die Augen verschliessen können und „alternative Fakten“ präsentieren.

Und zwischen den beiden Seiten findet kein Dialog mehr statt. Der Diskurs ist ausgesetzt, der eine der Grundlagen der Aufklärung und eine Voraussetzung liberaler Gesellschaftsformen bildet. Wie dramatisch ist die Situation also?

Die Situation mag dramatisch sein, aber sie ist hoffentlich nicht tragisch im Sinne einer Tragödie, an deren Ende ein notwendiges und tödliches Scheitern steht. Der moderne demokratisch-liberale Rechtsstaat führt, wenn man ihn als Bühne betrachtet, alles Mögliche auf: Dramen, Tragödien, Komödien, Farcen, Possen, manchmal sogar Opern, auch komische. Was ich damit sagen will: Der demokratisch-liberale Rechtsstaat hat die Aufgabe, die Meinungsbildung seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und einen „Streit der Meinungen“ zu ermöglichen. Das ist nicht ganz dasselbe wie eine Diskussion in einem Universitätsseminar zu organisieren, bei der nur vernünftige – nachvollziehbare – Argumente zählen. Nur im Idealfall findet der Meinungsstreit in Form von Dialogen oder Diskursen statt, die ergebnisoffen sind und zugleich von der allseitigen Bereitschaft getragen werden, Kompromisse über weltanschauliche Lager hinweg zu schliessen.

Das kommt in einem teils direktdemokratischen politischen System wie demjenigen der Schweiz immerhin öfter vor als anderswo. Aber auch hier gilt: Eine liberale, rechtsstaatliche Demokratie kann und soll keine „Wahrheiten“ verordnen oder vorschreiben; nicht nur keine weltanschaulichen Wahrheiten, auch wissenschaftliche Wahrheiten nicht. Jeder und jede kann glauben und öffentlich behaupten, was er oder sie glauben und behaupten will. Die Grenzen setzt, was das Behaupten – die öffentliche Meinungsäusserung – angeht, allenfalls das Strafrecht.

Oft werden Behauptungen nicht begründet, sondern einfach wiederholt. Und es sind nicht nur Verschwörungstheoretiker, die sich so verhalten, sondern zum Beispiel auch ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat.

Ja, das ist so (wobei Präsidentschaftskandidat zu sein und Verschwörungserzählungen zu verbreiten, ja durchaus auf eine und dieselbe Person zutreffen kann). Es hat eine fatale Note deswegen, weil es eben nicht nur in autoritären, diktatorischen oder halbdemokratischen Gesellschaften passiert, sondern gerade auch in demokratischen Gesellschaften, deren Rechtssystem auf dem Prinzip der freien Selbstbestimmung des Individuums und derjenigen des (per Mehrheit entscheidenden) Kollektivs beruht. Man kann jemanden entlarven, der Stuss erzählt. Aber man kann ihn nicht daran hindern – jedenfalls nicht, wenn man nicht in die Grundrechte eingreifen will.

„Wer gewohnheitsgemäss Humbug produziert, dessen Wahrnehmung der Realität verzerrt sich gewissermassen systematisch.“

Auch dann nicht, wenn die Aussagen offensichtlich falsch sind?

Die Unwahrheit zu sagen, ist nicht verboten (es sei denn man sagt vor Gericht unter Eid aus). Niemand, der glaubt, die Erde sei eine Scheibe, muss dafür ins Gefängnis. Es fragt sich aber, ob es sich bei dem, was wir hier in den Blick nehmen, um Unwahrheiten handelt und um Lügen. Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hat im Zusammenhang mit solchen Phänomenen bereits 1986 von „Bullshit“ gesprochen: also Blödsinn, Schwachsinn, Humbug, je nachdem, wie man übersetzen möchte. Um das Phänomen Bullshit zu verstehen, muss sein Verhältnis zur Lüge ins Auge gefasst werden. Wer lügt, muss die Wahrheit kennen – oder zumindest glauben, sie zu kennen. Wer Bullshit redet, muss es nicht. Dem «Bullshitter», und das erachtet Frankfurt für wesentlich, ist die Wahrheit gleichgültig; er nimmt es mit ihr und den Fakten nicht genau. Ihn interessiert vornehmlich, mit seinen Behauptungen durchzukommen. Er mogelt sich mit Halb- oder Unwahrheiten durch; wenn es gerade zupasskommt, auch mit Wahrheiten. Er plappert, sondert heisse Luft ab und biegt sich alles so hin, wie er es braucht.  Wer gewohnheitsgemäss Humbug produziert, dessen Wahrnehmung der Realität verzerrt sich gewissermassen systematisch. Eine Pointe dieser Überlegungen Frankfurts: Bullshit ist «ein grösserer Feind der Wahrheit als die Lüge». Weil der Lügner eine wache Beziehung zur Wahrheit unterhalten muss, um seine Lüge zu verbergen, behält die Wahrheit – behalten die Tatsachen – ihren Wert. Der Lügner und der der Wahrheit verpflichtete Mensch, schreibt Frankfurt, «beteiligen sich gleichsam am selben Spiel, wenn auch auf verschiedenen Seiten». Nicht so der Bullshitter. Weder akzeptiert er die «Autorität der Wahrheit», noch weist er sie ausdrücklich zurück – er ignoriert sie schlicht. So untergrabe sein haltloses Gefasel unsere Kultur, die auf die Unterscheidung von Wahr und Falsch angewiesen sei – und, so würde ich anfügen, auf den Begriff der Tatsache, der es sachlogisch ausschliesst, dass es «alternative Fakten» gibt.

Nicht zuletzt die digitalen und sozialen Medien machen es einfach, Bullshit zu verbreiten. Was, wenn der Bullshitter da unwidersprochen bleibt?

Erst vor zwei Jahren hat Jürgen Habermas ein kleines Update seines „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ publiziert. Darin spricht er mit Blick auf die sozioelektronische Sphäre von zersplitterten Teilöffentlichkeiten: Es findet eine affektive Polarisierung statt, die den Dialog und den sachbezogenen Meinungsaustausch verhindert. Meinungen werden gebildet, Urteile gefällt aufgrund von Gruppenzugehörigkeit, nicht aufgrund von sachlichen Überlegungen und einleuchtenden Argumenten. Die Rede von „Echokammern“ und „Blasen“ ist uns allen geläufig. Aber die Schweiz hat es auch diesbezüglich besser als manche andere Länder. Die affektive Polarisierung, die weltanschauliche Spaltung scheint, so hat eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Basel ergeben, die sich auf eine SRG-Umfrage stützt, nicht zugenommen zu haben in den letzten Jahren. Die Gründe sind in den zahlreichen direktdemokratischen Abstimmungen über Sachfragen zu suchen, die öffentlich diskutiert werden und bei denen es im Ergebnis immer wieder zu lagerübergreifenden „Abstimmungskoalitionen“ kommt.

Sie haben also die Hoffnung nicht aufgegeben?

Man sollte bei der Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Solange die demokratischen bzw. direktdemokratischen Institutionen und auch die Wissenschaftsinstitutionen sowie das Bildungssystem noch einigermassen funktionieren, sehe ich keinen Grund, das Projekt der Aufklärung und der Selbstaufklärung abzuschreiben.

Um einen Dialog zu führen, braucht es ein Forum, ein Medium, das nicht zur affektiven Polarisierung beiträgt.  Sie waren über 20 Jahre lang Feuilleton-Redakteur der NZZ und haben das Feuilleton einmal als Medium der räsonierenden Öffentlichkeit beschrieben. Ist es das noch heute?

Es ist sozusagen ein Idealtypus gewesen, der mir bei meiner langjährigen Arbeit als Redakteur vorschwebte, der im Feuilleton für Geisteswissenschaften, Sachbuchkritik und Zeitdiagnose zuständig war – ein Ideal, das auf die Zeit der Aufklärung zurückgeht, auf die Vorstellung eines sich selbst aufklärenden Publikums, wie Immanuel Kant es beschrieben hat: Das Publikum ist „gebildet“, nicht notwendig „gelehrt“, es liest (Zeitschriften, Zeitungen, Bücher), diskutiert über Gelesenes und schreibt gegebenenfalls auch selbst. Einst nannte man das „Bildungsbürgertum“; ich würde das Anforderungsprofil ein wenig ermässigen und sagen: Eine ergänzungsfähige Halbbildung war und ist ausreichend, um zur Feuilletonleserschaft gehören zu können. Das wiederum bedeutet: Ein gutes Feuilleton regelmässig aufzuschlagen, trägt zur Weiterbildung bei.

 „Beurteilen heisst eben nicht: vorab feststehende Positionen oder Meinungen vertreten.“

Worin liegt das Besondere des Feuilletons?

Die Besonderheit des Feuilletons als Ressort wie auch der Textsorte, die das Wort bezeichnet, liegt für mich in dem, was ich „Geschmacksbildung“ nennen möchte. Ich meine Geschmacksbildung in einem weiten Sinne, der sich nicht nur auf Theater, Musik, Literatur, Kunst bezieht. Man könnte ebenso sagen: Das Feuilleton dient der Kultivierung des Urteilsvermögens oder der Urteilskraft – der reflektierenden Urteilskraft im Sinne Kants, die „Besonderes“ nicht unter ein vorgegebenes „Allgemeines“ (ein Prinzip, ein Gesetz) subsumiert, sondern nach Gesichtspunkten und Massstäben der Beurteilung erst und stets aufs Neue sucht. Solche Schärfung der Urteilskraft geht streckenweise – nur scheinbar paradox – auch mit skeptischer Urteilsenthaltung einher. Beurteilen heisst eben nicht: vorab feststehende Positionen oder Meinungen vertreten. Derlei überlässt das Feuilleton anderen, den „meinungsfreudigen“ Ressorts.

Was hiesse dann aber urteilen und beurteilen?

Beurteilen bedeutet erst einmal, zu differenzieren, zu facettieren, zu unterscheiden – und das heisst im Wortsinne: zu kritisieren. Das Feuilleton ist „Organ“ einer Kritik, die sich gegen das schematische Denken in vermeintlich erschöpfenden Alternativen – schwarz oder weiss, nein oder ja – wendet; nicht nur in der Sphäre des Ästhetischen, auch in der des Ethischen, Moralischen, Politischen, Sozialen … Die feuilletonistische Devise lautet darum: „Tertium datur“, es gibt ein Drittes – mindestens; besser noch: eine dritte, vierte, fünfte Perspektive, in der ein soziales Phänomen, ein moralisches Problem, ein Theaterstück, ein Buch wahrgenommen werden können. Das Feuilleton kultiviert den Möglichkeitssinn. Nötig ist dafür, neben der Neugierde, eine gewisse Unvoreingenommenheit. Hinderlich sind ideologische Scheuklappen jedweder Art. Ich meine, wir haben zu meiner Zeit im Feuilleton der NZZ versucht, in diesem Sinne zur Geschmacks- und Urteilsbildung beizutragen.

Was kann Ihre Disziplin, die Philosophie, beitragen, die Perspektivenvielfalt zu fördern?

In den angedeuteten idealtypischen Feuilletonbegriff sind ersichtlich philosophische Motive eingewoben: Aufklärung von Vorurteilen, Klärung von Begriffen, Verflüssigung erstarrter Denkformen, Infragestellung selbstverständlich erscheinender Meinungen, Reflexion und Kritik, Schärfung des Urteilsvermögens – das alles gehört zum Kerngeschäft der Philosophie seit ihren europäischen Anfängen in Griechenland. Und zu ihren Anfängen gehört auch die Praxis einer grossen Spannweite. In Gestalt des Sokrates ging Philosophie zwischen Marktplatz und Akademie, zwischen der Sphäre des Meinungsaustauschs und derjenigen der forschenden Wahrheitssuche, hin und her.

Die Frage ist, ob sie heute, da sie als universitäre Disziplin gut etabliert ist, die aus solcher Spannweite sich ergebende erkenntnisförderliche Spannung halten kann. Das kann sie nicht, wenn sie ignoriert, was auf dem Versammlungs- und Marktplatz (griechisch: Agora, lateinisch: Forum) geschieht, wenn sie vergisst, dass sie – zumindest auch – ihre eigene Zeit in Gedanken zu erfassen hat, wie Hegel die Aufgabe charakterisiert hat. Die Spannung aufrechtzuerhalten vermag sie aber ebenso wenig, wenn sie das tut, was Hegel der Populärphilosophie seiner Zeit ankreidete: Sie rede „unserem gewöhnlichen Bewusstsein zu Munde, legt es als letzten Massstab an“. Das gewöhnliche Bewusstsein nicht als letztgültigen Massstab zu nehmen, bedeutet, wenn man so will: der Wahrheit die Ehre zu geben. Es bedeutet aber selbstredend nicht, dass es unphilosophisch wäre, am Alltagsbewusstsein anzuknüpfen, mit ihm in Austausch zu treten, um eine philosophische Suchbewegung zu beginnen, die von einem Wahrheitsinteresse geleitet ist.

Liegt darin auch eine Bildungsaufgabe?

Eine wichtigere Bildungsaufgabe kann ich mir kaum vorstellen: Im Austausch von Meinungen, Ansichten, Behauptungen, Vorurteilen, Urteilen und Fragen gemeinsam und wechselseitig die Kunst der Kritik, die Kunst des differenzierenden Urteilens zu üben. Das wäre Weiterbildung für Fortgeschrittene – oder besser: für Fortschreitende.