Über Stefanie Rödel
Prof. Dr. Stefanie Rödel ist Professorin für Coaching und Supervision. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit mit den Schwerpunkten Beratungswissenschaften sowie Arbeits- und Organisationspsychologie ist sie in eigener Praxis als Business Coach und Organisationsberaterin tätig.
Gerade ist Ihr Buch „Perfektionismus, Imposter-Phänomen und Prokrastination“[1] erschienen (2025). Was macht seine Aktualität aus?
Mit diesem Buch haben wir Perfektionismus als Grundlage für viele Probleme in den Fokus genommen, allerdings nicht isoliert, sondern in Verbindung mit Imposter-Phänomen und Prokrastination – jeweils jedoch in nicht-klinischen Ausprägungen. Zudem betrachten wir die zwei Seiten des Perfektionismus, die adaptive und die maladaptive. Bei der Ersteren setzt man sich zwar durchaus ehrgeizige Ziele, kann sich aber mit dem Erreichten zufriedenstellen. Bei Letzterer hat man sich starre und auch hohe, unrealistische Standards gesetzt. Man kann persönliche Leistungen nicht geniessen und bleibt verunsichert.
Perfektionismus kann, wenn er übertrieben wird, zwanghaft sein und damit negative Folgen sowohl für einen selbst wie für das Umfeld zeitigen. In einer Zeit, in der Selbstoptimierung in verschiedenen Lebensbereichen zu einem Imperativ geworden ist, begegnen wir diesen negativen Ausprägungen vermehrt.
Wir haben deshalb versucht, Perfektionismus auch in einem gesellschaftlichen und in einem organisationalen Kontext zu betrachten. Performance, Social-Media, Remote oder New Work sind die Stichworte dazu. New Work beispielsweise ist auch in der Weiterbildung ein grosses Thema. Seine dunklen Seiten gerade im Zusammenhang mit Perfektionismus werden dabei oft ausgeblendet, nicht zuletzt, weil das Wissen dazu fehlt – bei Betroffenen und dem Weiterbildungspersonal. Hier wollten wir Licht ins Dunkel bringen und Wege aufzeigen, wie Ausbildende, Personalentwicklerinnen und -entwickler, Coaches und Führungskräfte mit dem Phänomen umgehen können.
Wie hängt dieses Dreigestirn Perfektionismus, Imposter-Phänomen und Prokrastination zusammen?
Vor allem in besonders leistungsorientierten Kontexten wie Studium, Beruf, Führung, aber auch in der Weiterbildung ergibt sich oft ein Problemdreieck. Wir gehen davon aus, dass Perfektionismus oftmals der Ausgangspunkt ist; Perfektionismus als überhöhter Anspruch an sich selber, wo man auf jeden Fall und um jeden Preis Fehler vermeiden will.
Perfektionismus kann man in drei grosse Kategorien einteilen: Zum einen spricht man davon, wenn man sehr hohe Ansprüche an sich selber hat. Oder die sehr hohen Ansprüche sind nach aussen gerichtet. Und schliesslich gibt es den sozial vorgeschriebenen Perfektionismus (englisch socially prescribed). Davon Betroffene glauben, das andere sehr hohe Ansprüche an einen stellen, die man dann – oft vergeblich – zu erfüllen versucht.
Wenn man nun Perfektionismus als Ausgangspunkt nimmt, kann das ein Imposter-Gefühl verstärken. Das Imposter-Gefühl könnte man als Hochstapler-Gefühl umschreiben, wobei die Leute eher tief- als hochstapeln. Betroffene haben sehr oft das Gefühl, den eigenen Erfolg nicht verdient zu haben. Trotz nachgewiesener Erfolge und Kompetenzen zweifeln sie an ihren Fähigkeiten und befürchten, als Betrüger entlarvt zu werden. Es gibt viele Menschen, die perfektionistisch veranlagt sind, aber nicht unter dem Imposter-Phänomen leiden. Umgekehrt ist es so, dass Menschen, die unter dem Imposter-Phänomen leiden, sehr oft perfektionistisch sind. Dann wird Perfektionismus als eine Strategie genutzt, um das vermeintliche Nicht-Genügen zu kompensieren. Es wird sehr viel Anstrengung in etwas investiert, trotzdem entwickelt sich kein Selbstvertrauen. Daraus ergibt sich sehr viel emotionale Erschöpfung.
Prokrastination, also dasAufschiebeverhalten, meint das bewusste oder unbewusste Hinauszögern von wichtigen Aufgaben. Perfektionismus kann dazu führen, weil man Angst hat, eben nicht perfekt zu sein. Wenn ich gar nicht erst anfange, kann ich auch nicht scheitern, so der Gedanke. Man vermeidet die Aufgabe aus Selbstschutz und setzt sich gleichzeitig massiv unter Druck.
Wie verbreitet ist Perfektionismus tatsächlich? Der englische Psychologe Thomas Curran[2], der eine grosse Feldstudie zum Thema durchgeführt hat, spricht sogar von einer verborgenen Epidemie.
Er ist sehr verbreitet. In meiner Praxis als Coach sehe ich viele Klientinnen und Klienten, die unter Perfektionismus leiden. Auch das Imposter-Phänomen kommt häufig vor, ohne dass die Menschen sich dessen bewusst sind. Für viele Betroffene ist es deshalb sehr erleichternd, zu erfahren, dass es nicht nur ihnen so geht. Es einfach mal auszusprechen, zu benennen und zu erkennen, dass es Auswege gibt, ist für viele eine Erlösung.
Im Kontext der Weiterbildung begegnen wir dem Perfektionismus ebenfalls häufig. Oft reihen Personen eine Weiterbildung an die nächste. Man sammelt gewissermassen Zertifikate. Aber die Betroffenen sind gar nicht davon überzeugt, das wert zu sein, was auf dem Papier steht.
Welche Folgen kann das haben? Für einen selbst und das Umfeld.
Betrachten wir das Individuum, so leiden die Leute oft still. Es ist etwas, worüber man nicht gerne spricht. Oft fehlt auch das Bewusstsein über das eigene Leiden. Die Leute kommen in die Beratung, wenn sie beispielsweise kurz vor einem Burnout stehen. Sie haben Leistungsblockaden aus der Angst heraus, nicht perfekt zu sein. Als Folge davon verzögern sie die Arbeit, sprich, sie prokrastinieren. Oder sie stecken sehr, sehr viel Zeit in die Vorbereitung. Dabei treten Stress und Erschöpfungsphänomene auf, weil der Druck nicht nachlässt.
Selbstsabotage ist ebenfalls ein Thema. Wenn man sich zum Beispiel Studienabbrecher anschaut, so bringen viele die kognitiven Leistungen für das Studium mit. Aufgrund der inneren Prozesse können sie es trotzdem nicht beenden. Sie vermeiden Risiken oder Neues und engen sich immer mehr ein – bis zum Abbruch.
Auch in der Teamarbeit in Unternehmen ist dies zu beobachten. Überkritisches Verhalten von Teammitgliedern, aber auch einer Führungskraft führen zu denselben Phänomenen. Dies äussert sich dann in Mikromanagement, was sehr demotivierend für die Mitarbeitenden sein kann. Eine Führungskraft mit Perfektionismus ist für ihre Mitarbeitenden ein Stressfaktor, nicht allein wegen der ständig hohen Ansprüche, sondern auch, weil die anderen glauben, es ihr gleichtun zu müssen. Auch das kann zu Burnout führen.
Oder die Betroffenen verweigern sich am Ende ganz.
Ja. Es ist ein Kreislauf, in dem sich die einzelnen Faktoren ständig verstärken.
Wenn wir nun auf den sozial vorgeschriebenen Perfektionismus schauen, so führt dieser oft zum grössten Leidensdruck, weil die Betroffenen sehr oft mit Überanpassung reagieren. Schliesslich treten sie den Rückzug an.
Im Prinzip reicht eine betroffene Person in einem Team, um die Spirale auszulösen. Stimmt das?
Das ist richtig. Es ist deshalb ein wichtiger Ansatz zu schauen, wie das Management strukturiert ist, welche Symptome es aufweist.
Wo stecken die Wurzeln für Perfektionismus? In der Kinderstube?
Die Kinderstube ist sicher relevant. Wenn die Eltern sehr starke Erwartungen an das Kind richten, auch übermässige Kontrolle ausüben, entwickeln die Kinder irgendwann Angst, alles falsch zu machen. Das kann auch passieren, wenn die Eltern nur Lob aussprechen, das sich auf das Ergebnis einer Leistung bezieht, nicht aber auf das Bemühen, die Anstrengung.
Sind die Eltern selber perfektionistisch veranlagt, prägt das auch die Kinder.
Wenn wir auf die Quellen schauen, so müssen wir aber auch gesellschaftliche und kulturelle Faktoren in den Blick nehmen. Unsere Leistungs- und Vergleichskultur spielt eine wichtige Rolle. In der Schule werden Kinder ebenfalls früh geprägt. Man wird nach irgendwelchen Kriterien bewertet, die man manchmal nicht immer versteht und die manchmal auch nicht objektiv sind.
In unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft wiederum herrscht das Ideal des unternehmerischen Selbst. Man muss sich als möglichst gutes Produkt vermarkten, was Druck zur ständigen Optimierung erzeugt.Die sozialen Medien tragen das Ihre dazu bei. In der digitalen Selbstdarstellung ist es wesentlich, wie viele Likes ich bekomme. Die Bewertungskriterien für sich selbst verschieben sich nach aussen. Sich selbst genug sein, mit der eigenen Leistung zufrieden zu sein, wird immer schwieriger.
Ich vermute, das alles greift ineinander. Die Optimierung, die Sozialen Medien, der schulische Druck, die übermässige Erwartung des Vorgesetzten.
Natürlich. Man kann die Dinge nicht isoliert betrachten. Es ist eine Mischung aus früher Prägungen, individueller Disposition, gesellschaftlichen und organisationalen Kontexten. Die Vielschichtigkeit ist das Spannende an diesem Phänomen, weil man eben auch verschiedene Zugänge dazu findet.
Wenn ich weiss, ich muss hier alles perfekt abliefern, ansonsten hat das möglicherweise negative Konsequenzen für mich, werde ich vielleicht perfektionistischer, als ich es vorher war. Wenn es in erster Linie darum geht, Fehler zu vermeiden, fange ich möglicherweise an, diese unter den Teppich zu kehren.
Es wäre ja wichtig, aus Fehlern zu lernen. Wenn man aber keine Fehler machen darf, gibt es keine Lernkultur, sondern eine Fehlervermeidungskultur. Bei hohem Leistungsdruck nur Anerkennung zu bekommen, wenn man fehlerfreie Höchstleistungen abliefert, fördert dies das Gefühl zu scheitern. Ein Gefühl von Selbstwirksamkeit oder von Erfolg zu entwickeln, ist dabei deutlich erschwert. Ist alles vorgegeben, herrschen enge Standards vor und wird man ständig kontrolliert, verliert man die Motivation, überhaupt Eigenverantwortung zu übernehmen.
In Bezug auf Weiterbildungen kommt es vor, dass diese vorgeschrieben werden. Welche Folgen kann das bei perfektionistisch veranlagten Personen haben?
Mache ich eine Weiterbildung nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern aus selbst auferlegter oder fremdbestimmter Selbstoptimierung, wird Lernen zur Leistungsanforderung und verliert seine Bedeutung als persönliches Wachstum. Man lernt nicht, um etwas Neues zu entdecken oder vielleicht noch eine Facette der eigenen Persönlichkeit zu entfalten, über sich hinauszuwachsen, sondern aus Angst, nicht zu genügen. Man fürchtet, das Produkt – also man selbst – sei nicht mehr interessant, werde abgehängt. Ist die einzige Motivation fürs Lernen, konkurrenzfähig zu bleiben, ist man einem Druck ausgesetzt, der sich negativ auswirken kann. Gar nichts zu tun, ist natürlich auch keine Alternative.
Sie haben vorhin über die Bedeutung der Motivation für Weiterbildung gesprochen. Wie sieht es mit den Zielen der Weiterbildung aus?
Manchmal sind diese geradezu erstaunlich überhöht, auch im Sinne von Lernversprechen, die toll klingen und sich gut verkaufen. Dies sind dann ebenfalls Stressfaktoren,weil man der Sache gar nicht gewachsen ist, nicht gewachsen sein kann.
Superlative können in diesem Sinn also fatal sein?
Man nimmt den Leuten unter Umständen das Gefühl des Erfolgserlebnisses und ersetzt es durch Frustration, weil sie das Gefühl haben, das Ziel nicht erreicht zu haben.
Oder man vermeidet die Weiterbildung überhaupt.
Dann kommt die Prokrastination ins Spiel. Oder das Imposter-Phänomen, weil man fürchtet, sich in der Weiterbildung eine Blösse zu geben; weil man Angst hat, die andern könnten merken, dass man gar nicht das drauf hat, was man vorgibt.
Wissenschaftliche Studien betonen die Verbreitung von Perfektionismus insbesondere unter Jugendlichen. Handelt es sich um eine Generationenfrage?
Ich glaube, die Selbstoptimierungslogik ist bei jüngeren Personen ausgeprägter, weil sie viel stärker in der Vergleichskultur der digitalen Welt verankert sind. Sie sind stärker darauf konditioniert, Belohnungen zu empfangen, indem sie sich präsentieren und vergleichen. Es gibt ausreichend Studien darüber, die aufzeigen, was hirnphysiologisch passiert, wenn ich ein Like bekomme.
Wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen möchten, wo sehen Sie die grössten Herausforderungen im Umgang mit Perfektionismus und den anderen beiden Phänomenen, die damit zusammenhängen?
Ich vermute, der Leistungsdruck wird noch zunehmen und die Arbeitsmärkte werden sich weiter verschieben. Junge Menschen müssen ganz früh schon eine Menge geleistet haben. Sie müssen ihr Studium absolviert haben, im Ausland gewesen sein, Arbeitserfahrung mitbringen und vieles mehr. Ich sehe immer wieder sehr junge Führungskräfte, noch unter 30 Jahre alt, die sich sehr verausgabt haben, aber denen es dennoch an menschlicher Reife und Ausgeglichenheit fehlt. Das Burnout-Risiko ist entsprechend hoch. Gleichzeitig werden wir immer älter. Die gute Balance zu finden zwischen Selbstfürsorge, Selbstmanagement und Selbstoptimierung ist schwierig. Aber sie ist zentral.
Wir werden älter, gleichzeitig muss man alles schon früh im Leben erreicht haben. Als hätte man es mit verschiedenen Geschwindigkeiten zu tun. Wie soll man damit umgehen, nicht zuletzt in der Weiterbildung?
Es geht um eine Entwicklung, die authentisch ist und die nicht von zwanghafter Selbstoptimierung getrieben wird. In der Weiterbildung sollte es deshalb darum gehen, eine Lernaufgabe als Chance zum persönlichen Wachstum zu erkennen.
Betrachtet man gewisse Entwicklungen, so scheint persönliche Entwicklung in der Weiterbildung aber eher in den Hintergrund zu treten. Etwa die Tendenz hin zu sogenannten Micro-Credentials, bei denen es um konkrete einzelne Fertigkeiten und kurze Lerneinheiten geht, spielt persönliche Entwicklung kaum eine Rolle.
Das glaube ich auch. Deshalb ist es so wichtig, den Blick darauf nicht zu verlieren, was man persönlich braucht, um sich zu entwickeln und nicht allein auf die Wettbewerbsfähigkeit zu schauen.
Das setzt auch voraus, dass die Weiterbildung oder das Coaching die Räume dafür schaffen.
Sicherlich. Auch wenn ich als Führungskraft darauf achte, dass sich aus Fehlern Lernchancen entwickeln, ist schon viel gewonnen. Und wenn man auch die Anstrengung wertschätzt und nicht nur das Ergebnis, kann der Druck auf den Perfektionismus abnehmen.
Erkennen Sie Strömungen, die allenfalls positive Entwicklungen erhoffen lassen?
Die Menschen sind sehr erschöpft. Nach Corona haben wir einen unheimlichen Anwuchs an psychischen Störungen und Krankheiten registriert. Viele Menschen sind langzeiterkrankt, erholen sich nicht mehr und sind starken psychischen Belastungen ausgesetzt. Verbunden mit unserer Social-Media-Kultur ist das sehr problematisch.Wenn wir nicht umbiegen, werden die Problem mehr, nicht weniger. Wir müssen uns fragen, wo wir ansetzen können: in der Schule, zu Hause in der Erziehung, im Unternehmen. Wir haben vielfältige Ansatzpunkte, um den Perfektionismus einzugrenzen, damit er eben nicht epidemische Ausmasse annimmt, wie Curran sagt. Oder wenn wir schon eine Epidemie haben, dass wir sie in den Griff bekommen und unsere psychische Gesundheit bewahren. Dass wir das Phänomen grundsätzlich beseitigen, glaube ich nicht, aber wir können einen produktiven, gesunden Umgang damit erlernen.
[1] Perfektionismus, Imposter-Phänomen und Prokrastination. Perspektiven, Zusammenhänge und Lösungsansätze für Personalentwicklung und Beratung. Hrsg. Stefanie Rödel, Magdalena Bathen-Gabriel, Katharina-Maria Rehfeld. Springer Gabler Wiesbaden 2025.
[2] Thomas Curran, Andrew P. Hill. Perfectionism Is Increasing Over Time: A Meta-Analysis of Birth Cohort Differences From 1989 to 2016. In: Psychological Bulletin, 145 (4). Dezember 2017.