Über Andreas Hadjar
Prof. Dr. Andreas Hadjar ist Professor für Soziologie, Sozialpolitik und Sozialforschung an der Universität Fribourg. Er forscht und publiziert über Ungleichheiten im Bildungserwerb sowie bezüglich Arbeitsmarkt- und anderen Lebenschancen. Ein besonderes Interesse hat er dabei auch an der Frage, wie Bildungssysteme, Wohlfahrtsstaatsregimes und andere gesellschaftliche Charakteristiken Ungleichheiten prägen.
Herr Hadjar, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Fragen der sozialen Ungleichheit im Bildungssystem. Was fasziniert Sie persönlich an diesem Thema?
Das Thema ist einfach von sehr hoher Relevanz, denn es betrifft die Einzelnen gleichermassen wie die Gesellschaft an sich. Systematische Benachteiligungen – und das ist ja der Kern des sozialen Problems von Ungleichheiten – in früheren Lebensabschnitten strahlen über das gesamte Leben aus. Nachteile beim Bildungserwerb und Bildungsarmut bedeuten ein höheres Risiko der Arbeitslosigkeit und ein geringeres Einkommen, eine geringere politische Beteiligung, ein geringeres Wohlbefinden und eine geringere Gesundheit und letztlich eine kürzere Lebenserwartung. Wenn die am geringsten Gebildeten zehn Jahre kürzer leben im Durchschnitt als die am höchsten Gebildeten, ist das ein individuelles Problem. Aber hochgerechnet auf die Gesamtgesellschaft ist es auch ein soziales Problem. Ungleichheiten in der Gesamtgesellschaft bedeuten ungenutzte Begabungsressourcen. Das heisst, Gruppen deren Potenzial nicht für den gesellschaftlichen Fortschritt – kulturell oder ökonomisch – genutzt werden kann. Aber Ungleichheiten können auch eine geringere Stabilität der Gesellschaft bedeuten.
Die Idee der Meritokratie verspricht, dass ausschliesslich individuelle Leistung und Begabung den Bildungserfolg und damit den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen bestimmen. Trifft dies in der Realität zu?
Während die empirischen Befunde zeigen, dass Bildung als Leistungsmerkmal eine besondere Rolle hinsichtlich des Arbeitsmarkts zukommt – was ja ein Teil der Idee von Meritokratie bzw. der meritokratischen Triade ist – sehen wir, dass der Zugang und Erwerb von Bildung, auch von Abschlüssen, weiterhin von Ungleichheiten geprägt ist. Das heisst, hier zählt nicht nur Talent und Anstrengung, wie im klassischen Konzept der Meritokratie hervorgehoben. Sondern es zählt auch soziale Herkunft, Geschlecht oder Migrationshintergrund sowie, als neues Merkmal, das meist in Diskussionen zu Meritokratie ausgespart war, Behinderung als Ungleichheitsachse. Bildungserfolg ist somit weiterhin von leistungsfremden, sogenannten askriptiven Merkmalen abhängig.
Sie haben die meritokratische Triade erwähnt. Können Sie diese genauer erklären?
Die meritokratische Triade bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Herkunftsklasse oder Herkunftsschicht („class of origin“) und der im Leben erreichten Klasse bzw. Schicht („class of destination“), der mit zunehmender Meritokratisierung immer mehr über Bildung vermittelt wird. Der Begriff bezeichnet also ein Modell mit drei Faktoren, das diese drei Elemente – soziale Herkunft, Bildung und soziale Position im Erwachsenenalter – in Beziehung setzt.Das heisst, Bildung soll das bestimmende Charakteristikum sein, wenn es darum geht, welchen Beruf man ergreift und welcher Sozialschicht man angehört. Nach dem eigentlichen Verständnis der Meritokratie – das sich allerdings zwischen Forschenden unterscheidet – dürfte in einer perfekten Meritokratie auch die Bildung selbst nicht mehr von der sozialen Herkunft („class of origin“) abhängen.
Wie weit sind wir denn mit der Umsetzung des meritokratischen Ideals beziehungsweise wie haben sich in den letzten Jahrzenten Bildungsungleichheiten entwickelt?
In den letzten Jahrzehnten hat durchaus ein Abbau der Bildungsungleichheiten, also des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildung, stattgefunden. Ergebnisse unserer internationalen Studie zeigen aber immer noch, dass in gegliederten Bildungssystemen wie den Schweizerischen kanntonalen Systemen die Einflüsse von „class of origin“ oder anderen Ungleichheitsachsen wie Geschlecht, Migrationshintergrund und Behinderung auf den Bildungserwerb und entsprechende Abschlüsse besonders hoch sind. Die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte hat nicht per se zu einem Abbau von Bildungsungleichheiten geführt, wenngleich die Vergrösserung der Schulsysteme mit mehr Bildungsgelegenheiten Ungleichheiten etwas minimiert hat. Dort, wo die Systeme nicht tiefgehend in gesamtschulartige bzw. inklusive Schulsysteme umgewandelt wurden, erwiesen sich Bildungsungleichheiten als besonders stabil. Damit gibt es eben immer noch ein profundes und problematisches Ausmass an Bildungsungleichheiten in Bildungssystemen. Das meritokratische Ideal funktioniert also nicht hinsichtlich des Zusammenhangs von sozialer Herkunft bzw. „class of origin“ und Bildung. Gleichzeitig ist Bildung immer wichtiger für den Statuserwerb geworden, das heisst die Verbindung Bildung – Berufsposition bzw. „class of destination“ wurde gestärkt. Das meritokratische Ideal funktioniert also mehr oder weniger für den Zusammenhang zwischen Bildung und Beruf bzw. Bildung und „class of destination“.
Was bräuchte es aus ihrer Sicht, damit die Weiterbildung ihren Teil zur Verwirklichung des meritokratischen Ideals beitragen könnte?
Theoretisch hat Weiterbildung das Potenzial, Ungleichheiten zu verringern und damit dem Ideal der Meritokratie näher zu kommen. Allerdings zeigt sich empirisch, dass vor allem Hochgebildete Weiterbildung in Anspruch nehmen und von ihren Betrieben mehr Gelegenheiten dazu erhalten. Zudem leben Hochgebildete eher in Umwelten, die Motivation fördern, und sie haben die zeitlichen und finanziellen Ressourcen, sich in Weiterbildungsprogrammen zu engagieren. Insofern wird über Weiterbildung auch Ungleichheit reproduziert.
Trotz aller Ungleichheiten ist der Glaube an das Versprechen der Meritokratie weit verbreitet. Auch in der Schweiz gehen viele Menschen davon aus, dass letztlich nur Begabung und Leistung über die Verteilung von beruflichen Positionen und den damit verbundenen Meriten entscheiden. Warum ist dieser Glaube so stabil?
Das hängt damit zusammen, dass die profitierenden Klassen ein Interesse haben, diesen Mythos und das Verteilungsprinzip, das sie begünstigt, aufrechtzuerhalten. Andererseits ist es so, dass die bildungsferneren Schichten den „Legitimationsmythos“ eher glauben. Sie reflektieren nicht, dass weiterhin problematische Ungleichheiten existieren, die mit Benachteiligungen einhergehen, und dass eben nicht jeder gleiche Chancen hat.
Welche Wirkung entfaltet dieses fest verankerte Narrativ der Meritokratie in unserer Gesellschaft? Motiviert es oder verdeckt es Probleme?
Es hat einerseits sicher einen motivierenden Einfluss, da es das Gefühl vermittelt, dass sich Anstrengung und Leistung lohnen und dass es sich lohnt zu investieren. Auf der anderen Seite vermittelt es aber auch das Gefühl, es würde bereits genug zur Bekämpfung von Ungleichheiten getan – solange das Leistungsprinzip umgesetzt ist. Dabei wird verschleiert, dass es aufgrund bestehender Bildungsungleichheiten weiterhin systematische Benachteiligungen gibt. Somit dient die Wahrnehmung des meritokratischen Prinzips in der Bevölkerung auch als Legitimationsgrundlage, die die bestehende soziale Ordnung akzeptabel erscheinen lässt.
Der ungebrochene Glaube an eine funktionierende Meritokratie verhindert also, dass bestehende Ungleichheiten abgebaut werden?
Das Problem ist, dass Meritokratie leicht zur Rechtfertigung von Ungleichheit wird: Wer scheitert, dem wird nachgesagt, es liege an mangelnder Leistung und nicht an strukturellen Barrieren.
Können sie das noch genauer ausführen? Inwiefern rechtfertigt das meritokratische Ideal soziale Ungleichheiten?
Dafür sind mehrere Aspekte zentral. Erstens wird Ungleichheit als „natürlich“ dargestellt – als ob Unterschiede in Intelligenz oder Begabung weitgehend biologisch festgelegt wären. Damit wird Ungleichheit auch zunehmend individualisiert: Statt mit Schicht oder Herkunft wird Ungleichheit mit persönlicher Leistung oder Versagen erklärt. Zweitens wird Ungleichheit als funktional erklärt: Unterschiedliche Belohnungen sollen Leistung und Motivation fördern. Und drittens gilt Leistung in diesem Narrativ als objektiv messbar und neutral – dabei wird übersehen, dass für entsprechende Prozesse dominante Gruppen bestimmen, was als „Leistung“ gilt. Bildungsprozesse und Zertifikate dienen dabei als scheinbar objektive Signale für Qualifikation und Kompetenz. All das macht Meritokratie zu einem wirkungsvollen Legitimationsprinzip, das bestehende soziale Unterschiede rechtfertigt und stabilisiert.
Es gibt also durchaus Kehrseiten der Meritokratie. Bereits im Jahr 1958 verstand Michael Young Meritokratie in seinem Buch „The Rise of Meritocracy“ eher als Dystopie. Wieso?
Aufbauend auf der Überlegung, dass Belohnungen – etwa Bildungsabschlüsse, Berufspositionen oder Einkommen – nur nach Leistung, also nach Talent plus Anstrengung, vergeben werden sollten, beschrieb Young eine immer stärker werdende Kultur der Leistungstestung. Damit meinte er ein System, in dem die Fähigkeiten und Potenziale von Menschen durch standardisierte Tests und Bewertungen möglichst objektiv gemessen werden sollen. Er hat es als Dystopie und nicht als Utopie verfasst, da er vor den Folgen einer vollkommen automatisierten und bis ins Extreme standardisierten Testung warnen wollte, welche dann zu einem frühen Zeitpunkt die Lebenschancen der Menschen determiniert. Young zeigte damit, wie eine Gesellschaft, die sich vollständig auf messbare Leistung stützt, Gefahr läuft, Ungerechtigkeiten zu schaffen, weil Menschen schon früh aufgrund solcher Tests in Bildungslaufbahnen oder Berufe einsortiert werden.
Es gibt also nicht nur in der Umsetzung des Ideals Probleme, sondern auch im Ideal selbst, weil es den Blick auf strukturelle Ursachen von Ungleichheiten verstellt. Trotzdem: Ist Meritokratie nicht doch die gerechteste Form zur Verteilung von Berufspositionen und Einkommen?
Das meritokratische Prinzip ist sicher besser als feudale Verteilungsprinzipien, wo Privilegien qua Geburt vererbt wurden. Gleichzeitig sollten wir aber nicht vergessen, dass die Meritokratie, so wie sie heute funktioniert, immer noch Ungleichheiten beinhaltet. Insbesondere durch die nach wie vor grosse Bedeutung der sozialen Herkunft für den Bildungserfolg. Ich plädiere deshalb für ein aufgeklärtes meritokratisches Prinzip: Wir sollten Anstrengungen unternehmen, Bildungsungleichheiten zu bekämpfen. Und zwar nicht nur an bestimmten Übergängen, um gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen, sondern durchgehend. Der Einfluss der Herkunftsklasse und anderer askriptiver Merkmale wie Geschlecht, Migrations- oder Sprachhintergrund und Behinderung auf Bildung muss also durchgehend reduziert werden. Sinnvoll sind dabei inklusive Bildungssysteme, auch wenn sie aufgrund von Ressourcenknappheit selten adäquat umgesetzt werden.
Unabhängig davon gilt Meritokratie manchen als ‚necessary myth‘ – ein notwendiger Mythos. Teilen Sie diese Sicht?
Wie gesagt: Das meritokratische Prinzip fördert sicher die Motivation, in Leistung zu investieren und sich anzustrengen. Aber es wäre auch ein anderer Modus möglich, in dem Menschen sich aus universalistischen Prinzipien heraus für die Gesamtheit einsetzen. Ebenso wünscht man sich auch mehr, dass Leistung gebracht wird, weil Bildungsinhalte interessant sind und der Weg zur Leistung spannend und bereichernd ist.
Der Glaube an Meritokratie beschränkt also unsere Wahrnehmung von Bildung?
Bildung ist allgemein ein wesentliches Element zur Statusreproduktion. Ich brauche Bildung, um auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen zu haben und Einkommen zu erzielen, was wiederum meine Lebenschancen prägt. Wenn wir Bildung jedoch so stark über Meritokratie betrachten, geraten andere Dimensionen leicht aus dem Blick. Bildung prägt zudem Lebensqualität und Wohlbefinden. Denn sie vermittelt Fähigkeiten, um mein Leben bestmöglich zu führen.
In diesem Zusammenhang denke ich an den Soziologen Ralf Dahrendorf, der schon in den 1960er-Jahren von Bildung als Bürgerrecht sprach. Was bedeutet dieser Gedanke für Sie – und wie weit sind wir davon entfernt?“
Ja, diese Perspektive ist sehr wichtig. Bildung ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, um Einkommen und Status zu sichern. Sie ist auch ein zentrales Bürgerrecht – wie es Dahrendorf formulierte -, das allen Menschen offenstehen sollte, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder anderen askriptiven Merkmalen. Bildung befähigt Menschen, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzuhaben und ihr Leben eigenständig zu gestalten. Auch deshalb sind Bildungsungleichheiten so problematisch: Sie verletzen nicht nur das Leistungsprinzip, sondern auch ein fundamentales Recht auf Teilhabe. In der Realität haben wir dieses Bildungsideal aber noch nicht erreicht.
