About Sonja Schenkel
Sonja Schenkel ist ausgebildete Filmemacherin, hat Ethnologie studiert und in «Development Studies» promoviert. Sie ist Gründerin und Chef-Kuratorin von Paititi Lab, einem Design-Tank, der sich für Frieden und Nachhaltige Entwicklung einsetzt.
Du bist Ethnologin und Filmemacherin, deine Arbeit siedelt sich zwischen Kunst, Kultur und Wirtschaft an. Auf welchem Gebiet fühlst du dich am meisten zuhause?
Ich sehe meine Verortung zwischen Film, Wirtschaft und Wissenschaft als eine Form des Brückenbauens. In erster Linie bin ich aber Filmemacherin. Filme zu realisieren ist eine Tätigkeit des multimedialen Übersetzens von Inhalten in eine Form. Wichtig ist mir auch, dass Film nicht nur über Bild und Ton funktioniert, sondern auch über Farben, über das Gehör, den Rhythmus. Diese Form des Geschichtenerzählens kann man nicht allein machen, da spielt die Zusammenarbeit mit verschiedenen Spezialisten eine wichtige Rolle. Als Filmemacherin arbeite ich deshalb immer schon in kollaborativen Settings.
In deiner Dissertation bezeichnest du deine Arbeitsweise auch als «Creative Change». Wie hängen Kreativität und Veränderung für dich zusammen?
Mit dem Begriff des Creative Change will ich signalisieren, dass Wandel immer ein kreativer Prozess ist. Wandel ist aber auch ein anstrengender Prozess, der nicht immer als angenehm empfunden wird. In meiner Forschungsarbeit spielt oft auch die Frage eine Rolle: Wie weit können wir uns mit dem Kreativen vom Status quo entfernen?
Welche Antworten hast du auf diese Frage gefunden?
Eine generelle Antwort darauf habe ich nicht. Aber wer sich vom Gewohnten entfernt, geht ein Risiko ein. In Krisensituationen kann man beobachten, dass Menschen oft lieber in einer unguten Situation bleiben als das Risiko einzugehen, vom Unguten ins Ungewisse zu gehen.
Du realisierst ja unterschiedliche Arten von Projekten, darunter Co-Creation-Projekte. Wie entsteht das gemeinsame Kreieren von etwas Neuem?
In meinen Projekten geht es immer darum, eine Lösung für ein Problem zu finden. Dabei übernehme ich eine Doppelrolle als Facilitator, die die Bedingungen schafft, damit Ideen entstehen und wir in einen Dialog eintreten können, und als Ideengeberin, die selbst am kreativen Prozess teilnimmt.
Mir ist es sehr wichtig, die Idee gemeinsam zu entwickeln. Das Gegenüber muss eine Grundbereitschaft mitbringen, sich auf Neues einzulassen. Genauso wichtig ist, dass ich selbst offen bleibe und gleichzeitig gewisse Grundbedingungen definiere. Jedes Projekt hat eine Art Manifest, das die Säulen des Projektes definiert, die Design-Axiome oder die Grundmauern, von denen ich ausgehe. Darin muss man sich mit dem Auftraggeber und dem Hauptpartner einig sein. Für meine Fallstudie in Palästina – mein Dissertationsprojekt – habe ich zusammen mit israelischen und palästinensischen Müttern einen Dokumentarfilm gedreht. Thema war: Wie erklärst du deinen Kindern den Israel-Palästina-Konflikt? Zum Manifest dieses Co-Creation-Projektes gehörte, dass bestimmte Dinge wie Aufrufe zu Gewalt oder Verharmlosung des Holocaust und anderer traumatischer Erlebnisse auf beiden Seiten im Projekt keinen Platz haben. Das war eine Grenze, die ich im Voraus setzen musste.
Kannst du die Methode des Collaborative Design kurz skizzieren?
Collaborative Design bedeutet zunächst einmal, einen gemeinsamen Designprozess zu durchlaufen. Dabei ist der Kontext entscheidend: Gibt es eine Auftragssituation, wird man den Designprozess gemeinsam mit dem Auftraggeber definieren? Oder lädt man einfach Leute ein, gemeinsam über ein bestimmtes Problem nachzudenken? Definieren und gestalten muss man den Designprozess in beiden Fällen.
Es wäre eine Illusion zu denken, dass ein kollaborativer Prozess demokratisch verlaufen sollte. Partizipative Projekte werden beliebig, wenn man sie einfach laufen lässt und sich sagt: Schauen wir doch mal, was da entsteht. Es setzen sich dann leicht Ideen durch, die mehr mit Gruppendynamik zu tun haben als mit dem Projektziel. Oder es setzt sich die erstbeste Idee durch, weil die Gruppe rasch zu einer Lösung kommen will.
Wenn man mit offenen Formaten arbeitet und zum Beispiel die breite Öffentlichkeit zum Mitdenken einlädt, muss man dem Prozess unbedingt eine Richtung geben. Ein Designprozess ist kein Brainstorming. Dahinter steht eine Absicht, die sich mit den Inputs, die im Prozess entstehen, weiterentwickelt.
Design ist ein vieldeutiger Begriff. Was muss man sich im Zusammenhang mit Creative Change darunter vorstellen?
Ein Designprozess ist ein gesteuerter kreativer Prozess. Den Ausgangspunkt bildet eine Aufgabe oder Herausforderung, die man lösen möchte. Davon ausgehend kreiert man so lange verschiedene Formen und Prototypen, die je unterschiedliche Antworten auf das Problem bieten, bis man zu einem Endresultat kommt.
Der Designbegriff hat sich in der Ideenentwicklung etabliert. Es geht darum, eine Figur, ein Denkmodell zu formen. Im Rahmen von Designprozessen hat man irgendwann begonnen zu «basteln», die Ideen und Denkmodelle also tatsächlich mit den Händen zu formen und umzusetzen. Wenn man verschiedene Formen des Aneignens, verschiedene Modalitäten aktiviert, eröffnen sich neue Sichtweisen auf ein Thema. Produktiv ist das Basteln, weil man seine Gedanken in eine neue Modalität übersetzen muss. Man betrachtet das gleiche Ding aus wechselnden Perspektiven, was neue Einsichten ermöglicht.
Kann man deinen Ansatz dem Design Thinking zuordnen?
Design Thinking durchläuft man eine Forschungsphase, bei der man die Ideen ebenfalls manuell umsetzt, sie aber sukzessiv einschränkt, bis schliesslich ein Prototyp entworfen und nach mehreren Iterationen, also Entwicklungsrunden, gebaut wird. Meine Arbeit ist breiter gefasst. Wenn ich mit Film arbeite, lege ich das gemeinsame Gestalten des Films als kollaborativen Designprozess an.
Bei Kreativität geht es immer um Neues. Woran erkennt man denn das Neue?
Die Frage nach der Existenz des Neuen ist Teil einer interessanten philosophischen Debatte. In meiner Arbeit interessiert mich das aber weniger. Ich knüpfe lieber an die Dimension des Nützlichen an. Meine Art von Reflexion zielt auf Fragen wie: Welche Form der Gesellschaft wollen wir, welche Form des Lebens, welche Möglichkeiten wollen wir uns eröffnen? Eine grosse Rolle spielt dabei, welchen Geschichten, welchen Narrativen ich verbunden bin.
Ausserdem: Was als neu bezeichnet wird, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen oft als alter Zopf. Heute kursieren zum Beispiel Vorstellungen einer Zukunft, in der die Technik immer neue Möglichkeiten schafft und uns als Menschen zu überrollen droht. Wie neu ist das? Dieselbe Vorstellung findet sich auch in den Star Trek Filmen der 1970er Jahre oder in Charlie Chaplins Film Modern Times. Damals war es die industrielle Revolution, heute stehen Künstliche Intelligenz und Roboter für eine Technik, die den Menschen irgendwann obsolet werden lässt.
Die Idee eines solchen Verhältnisses zwischen Mensch und Technik ist also alt. Ich frage mich: Ist die Vorstellung, dass die Technik den Menschen überflüssig machen könnte, eine nützliche Idee? Vielleicht wäre ein anderes Narrativ sinnvoller. Ich würde die Technik in Zukunftsvisionen mitdenken, aber als positive Partnerschaft, die man gestalten kann, und nicht als Riesenzahnrad oder böser Algorithmus, der uns irgendwann abschaffen wird.
Du versuchst, die Leute von einer defensiven Sicht wegzubringen und andere Erzählungen anzuregen?
Ja, was mich interessier, ist die Frage der Agency. Inwiefern habe ich eine Autonomie und die Kraft, Entscheidungen zu treffen? In Projekten zu Zukunftsvisionen begegne ich oft Leuten, die überzeugt sind, es seien Riesenkräfte am Werk, die ihnen keine Wahl lassen würden. Wir sind ja tatsächlich mit enormen Kräften konfrontiert: Wirtschaft, Digitalisierung, Klimawandel und vieles mehr. Was ich in meiner Arbeit versuche, ist zu sagen: In diesem konkreten Feld, in dem du so vielen Kräften ausgesetzt bist, musst du irgendwo deinen kleinen Raum finden, den du gestalten kannst. Versuch also mal, diese Kräfte anders zu betrachten. Mit Agency zu arbeiten, heisst: Egal, was um mich herum passiert, ich kann immer entscheiden, wie ich damit umgehe, wie ich es betrachte und mich positioniere. Auch bei grossen gesellschaftlichen Themen kann ich entscheiden, mitzugehen, mich zu verweigern oder eine Gegensteuer zu setzen. Ich bin nie einfach nur ausgeliefert. Wenn es gelingt, die Bedingungen für eine solche Haltung zu schaffen, ist es ganz natürlich, dass die Leute sagen: Ich lasse mir doch nicht jeden Bären aufbinden!
Es gibt oft eine Resistenz gegen den Wandel, aber es gibt auch eine Resistenz gegen die Entmündigung. Ich habe einen positiven Glauben an die Menschheit und bin überzeugt, dass Menschen ihre Kraft aus positiven Ideen beziehen wollen und nicht nur aus dem Überlebenstrieb.
Wenn man vom Nützlichen ausgeht, kann man fragen: Nützlich für wen? Veränderungsprozesse haben ja oft auch mit Macht zu tun. Wer hat in deinen Projekten die Definitionsmacht darüber, was nützlich ist?
Ich denke, kreative Entscheidungen sind immer Machtmomente. Was nützlich ist, muss in jedem Projekt von Neuem ausgehandelt werden. Die Suche nach einem Konsens kann die Prozesse sehr verlangsamen, das kennen wir in der Schweiz ja gut.
Ich verpflichte mich gewissen Grundwerten. Das sind Werte im Sinn der Menschenrechte und der Ökologie. Ich sehe den Menschen als Teil der Natur. Was sich gegen die Natur richtet, richtet sich auch gegen den Menschen.
In deiner Dissertation stellst du fest, Creative Change schaffe einen Ausgleich zwischen individuellem Querdenken und kollektiven Interessen. Welchen Platz räumst du dem individuellen Querdenken ein?
Ich stelle fest, dass das individuelle Querdenken oft eine spontane Anerkennung findet. Die Ideen von Querdenkern in einen kollektiven kreativen Prozess zu integrieren, braucht aber sehr viel Zeit.
Wer mit Gruppen arbeitet, kennt das Phänomen: Man schafft einen Rahmen für kreative Prozesse, die Leute öffnen sich und lassen sich auf das Experiment ein, aber am Ende kommt doch wieder das Immergleiche heraus. Das hängt mit dem kreativen Risiko zusammen. Gruppen sind oft nicht bereit, ein kreatives Risiko einzugehen und sich auf das Ungewisse einzulassen. Obwohl sie die Ideen des Querdenkers spontan würdigen, sind sie manchmal nicht in der Lage, sie im gemeinsamen kreativen Prozess mitzunehmen.
Trotzdem bin ich überzeugt, dass individuelles Querdenken immer einen Abdruck hinterlässt und das Kollektiv verändert, auch wenn sich die Wirkung nicht sofort zeigt. Umso wichtiger scheint es mir, für das Querdenken eine Form von Dokumentation zu finden, quasi ein Archiv anzulegen, damit diese Ideen gewürdigt werden und nicht verlorengehen.
Welche Kräfte kommen ins Spiel, wenn es darum geht, gemeinsam entwickelte Ideen zu implementieren? Welche Erfahrungen machst du damit?
Bisher war ich vor allem in Entwicklungsprozesse und weniger in die Implementation involviert. Ich erfahre aber teilweise, dass Projekte in der Umsetzung eine Eigendynamik entwickeln und sich verändern. Das bringt mich zur Einsicht, dass Ideenentwicklung und Implementierung parallele Prozesse sein sollten. Ideenentwicklung sollte immer wieder punktuell stattfinden und nicht als etwas gesehen werden, das vor der Umsetzung stattzufinden hat.
In deiner Arbeit verfolgst du einen wissenschaftlichen und einen künstlerischen Zugang. Wie verbindest du diese beiden Zugänge, wenn es um kreative Prozesse geht?
Ich fühle mich der Wissenschaft sehr verbunden. Wichtig ist mir vor allem die Reflexion darüber, wie Wissen entsteht. In den Sozialwissenschaften hinterfragt man ja permanent, wie Wissen generiert wird und auf welchem Weltbild es beruht. Das Problem der Sozialwissenschaften, dass man sich vom eigenen Forschungsobjekt, dem Menschen, nicht distanzieren kann, erfordert eine ständige Selbstreflexion.
Was ich an der Kunst schätze, ist der grosse Experimentierraum. Wenn ich eine Kunstausstellung besuche, entsteht ein Dialog zwischen mir und dem Bild, oder ich werde Teil einer Skulptur oder einer Performance. Dadurch werde ich selbst zum Subjekt des Forschungsprozesses. Dass sich dieses Erleben nicht kontrollieren lässt, versteht sich von selbst. Es ist im Übrigen auch Aufgabe der Kunst, nicht alles im Voraus festzulegen.
In der Begegnung von Kunst und Wissenschaft finde ich einen spannenden Raum, den ich auch erforsche. Was dabei herauskommt, würde ich weder Kunst noch Wissenschaft nennen.
Dein Film mit den palästinensischen und israelischen Müttern ist ein solches Beispiel. Du hättest diese Fragestellung auch in Form einer klassischen Forschungsarbeit mit Interviews angehen können. Wäre auf diesem Weg dasselbe Wissen entstanden wie mit dem Filmprojekt?
Nein, dabei wäre definitiv nicht dasselbe Wissen entstanden. Bevor ich zu filmen begann, führte ich mit den Frauen ja tatsächlich Interviews. Ich sass mit ihnen auf dem Sofa und fragte: Wie erklärst du deinen Kindern den Israel-Palästina-Konflikt? Nach dieser Anfangsphase arbeitete ich mit dem Ansatz der teilnehmenden Aktionsforschung, bis zum fertigen Dokumentarfilm, der unter der Leitung dieser Frauen erstellt wurde.
Die Frauen begannen gleich nach der Interviewphase, ihren Film selbst zu designen und festzulegen, was sie sagen wollten. Anfangs stellte ich Fragen, dann begannen sie, sich die Fragen selbst zu stellen, so dass immer neue Antworten auf die Ausgangsfrage entstanden. Das war ein Lernexperiment für alle Beteiligten.
Was dadurch entstanden ist, hat eine ganz andere Qualität als klassische Forschungsarbeiten. Wenn ich die Frauen und ihr Umfeld einfach interviewe, bekomme ich das Wissen, das schon vorhanden ist. Wenn ich aber ein Designexperiment als Forschungsmethode verwende, generieren die Forschungssubjekte selber ein Wissen, das es in dieser Form vorher nicht gab und das teilweise überraschende Einsichten ermöglicht.
Das Experiment war auch für mich in der Rolle der teilnehmenden Beobachterin aufschlussreich. Wenn ich einer Frau sage «wir machen einen Film darüber, wie du deine Kinder erziehst, und du bestimmst, was gefilmt wird», dann schaffe ich einen verdichteten Rahmen, in dem sichtbar wird, welche Schauplätze für diese Frau wichtig sind. Sie bestimmt, was gefilmt und gesagt wird. Für mich war es manchmal hart, konsequent nur das aufzunehmen, was die Frauen im Film haben wollten. Schliesslich kam eine weitere Schwierigkeit hinzu: Das Umfeld begann zu intervenieren, weil eine Kamera vorhanden war. Plötzlich wurde es wichtig, was gesagt wurde. Diesen Aspekt fand ich interessant: An welchem Punkt beginnt die Öffentlichkeit, dominant zu werden? Wo beginnen die Frauen, sich selber zu beschneiden? Den Müttern wird in Konfliktregionen eine politisch aufgeladene Rolle zugewiesen. Mit diesem Film konnten sie die Frage, wie sie ihre Kinder inmitten dieses Konfliktes erziehen, auf ihre eigene Art beantworten. Der Film ist nur ein Teil – der öffentliche Teil – der Antwort, ein anderer Teil der Antwort steckt im Prozess, den die palästinensischen und israelischen Mütter in diesen vier Jahren gemeinsam designt haben.
Woran arbeitest du zurzeit?
Im Moment habe ich einen Fokus bei einem Projekt im Amazonasgebiet, im Dreiländereck Bolivien, Brasilien, Peru. Das Projekt läuft seit drei Jahren und wird von einer Koalition aus NGOs, lokalen Universitäten und Regierungsministerien getragen. Das Ziel besteht darin, durch die Entwicklung von waldfreundlichen Hightech-Zentren im Amazonasgebiet und einer nachhaltigen Landwirtschaft einen Beitrag zu einem neuen Entwicklungsparadigma zu leisten. Es wurde erkannt, dass die vierte industrielle Revolution, also Bereiche wie die Biotechnologie, die Kinetik, aber auch die Robotik viel von einer neuen Sichtweise der Natur und indigenem Wissen profitieren könnten. Das Konzept «Amazonia 4.0» des brasilianischen Klima-Forschers Carlos Nobre dient uns als Rahmen (www.elgranpaititi.org). Dabei sind wir überzeugt, dass man bei der Gestaltung der Zukunft auch die Vergangenheit mitdenken muss – und diese auch bewusst loslassen darf. Künstlerisch nehmen wir dieses Thema mit dem Projekt «Chrysalis – The Possibility of Growing Wings» auf (http://www.paititi-lab.org/chrysalis-proposal/). «Wir» bedeutet bei Paititi Lab immer wieder neu entstehende Konstellationen von Menschen, die in der Forschung, Wirtschaft und/oder Kunst arbeiten.