About Jyri Manninen
Jyri Manninen ist Professor für Erwachsenenbildung an der Universität von Ostfinnland.
Die Begriffe Veränderung und Change haben Konjunktur. Wie verstehen Sie Veränderung im Kontext der Erwachsenenbildung?
Jyiri Manninen: Veränderung ist ein sehr anspruchsvoller Prozess für Individuen, Gesellschaften und Organisationen. Im Vergleich zu traditionellen Lernaktivitäten geht auf Veränderung ausgerichtetes Lernen tiefer. Während die traditionelle Bildung sich primär auf Fertigkeiten und arbeitsbezogene Kompetenzen konzentriert, berücksichtigt veränderungsorientierte Erwachsenenbildung die gesamte Komplexität der Probleme und zielt auf ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge ab. Gesellschaftliche Probleme sind oft so komplex, dass ein gemeinsames, klares, adäquates Verständnis nur mit Hilfe von Kooperation und echtem Dialog möglich ist. Veränderungsorientierte Methoden können dazu einen Beitrag leisten.
Was versteht man unter veränderungsorientierter Erwachsenenbildung?
Im Allgemeinen lässt sich diese Art von Bildung als Kurs, Programm oder Projekt definieren, das komplexe Probleme im Leben des Einzelnen, in Organisationen, Gemeinschaften, Gesellschaften oder auf globaler Ebene lösen will. Für jede Ebene stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. So ist beispielsweise der von Jack Mezirow entwickelte Ansatz des transformativen Lernens auf individuelle Veränderungen ausgerichtet. Yriö Engeström entwickelte u.a. Methoden für das veränderungsorientierte Lernen in Organisationen. Eine universelle Methode für alle Ebenen gibt es nicht.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Auf der individuellen Ebene kann eine schwierige Lebenssituation erfordern, dass jemand seine Art zu denken und zu handeln reflektieren und verändern muss. Dabei könnte der Ansatz des transformativen Lernen hilfreich sein. Und wenn eine Organisation mit gravierenden Problemen konfrontiert ist, genügt es möglicherweise nicht, sich mit den Symptomen zu befassen. Es kann wesentlich effektiver sein, sich auf die Ursachen und Gründe zu konzentrieren, warum diese Probleme überhaupt erst entstanden sind. In Theorien organisationalen Lernens wird dieser Ansatz auch als Double-loop-Lernen oder expansives Lernen bezeichnet.
Der Punkt ist: Wenn Sie mit komplexen Problemen zurechtkommen müssen, brauchen Sie nicht nur neue Fähigkeiten, wie etwa technische Kompetenzen, Sie benötigen ein tieferes Verständnis der Situation, des grösseren Kontexts und der Prozesse oder Mechanismen, die diese Probleme prägen.
Was bedeutet das in der Praxis, zum Beispiel im Zusammenhang mit der digitalen Transformation von Gesellschaften?
Das bedeutet, dass es nicht ausreicht, Menschen beizubringen, wie sie soziale Medien nutzen und Nachrichten auf Plattformen wie Facebook teilen können. Wenn eine tiefergreifende Entwicklung angestrebt wird, muss man neben Anwendungswissen auch und vor allem ein besseres Verständnis der Funktionsweise digitaler Plattformen vermitteln. Eine Art von Medienkompetenz, die es den Einzelnen zum Beispiel ermöglicht, zwischen gefälschten und echten Nachrichten zu unterscheiden.
Natürlich brauchen wir auch grundlegende digitale Fertigkeiten. Das gilt insbesondere für ältere Personen, die nicht die Möglichkeit hatten, diese Fähigkeiten in ihrer Jugend oder im Berufsleben zu erwerben. Die “nicht veränderungsorientierte” Bildung ist also wichtig und nötig, aber sie reicht nicht aus.
Ein weiteres Beispiel: Man kann Arbeitslosen beibringen, einen besseren Lebenslauf zu schreiben, da sie diesen für die Stellensuche benötigen. Sie sollten aber darüber hinaus lernen zu verstehen, wie der Arbeitsmarkt funktioniert, wie Arbeitgeber neue Mitarbeiter suchen. Wenn sich Stellensuchende nur auf öffentliche Inserate verlassen, konkurrieren sie am Ende mit Hunderten von Bewerbern für die gleiche Stelle. Sie sollten also wissen, dass der Lebenslauf nur ein technisches Hilfsmittel ist, und lernen, wie man dieses sinnvoll einsetzt. Um heute eine Anstellung zu bekommen, müssen sie die Arbeitgeber möglicherweise direkt kontaktieren, mit ihren Freunden sprechen, Netzwerke aufbauen und so weiter. Das bedeutet: Zu lernen, wie man einen guten Lebenslauf schreibt, hilft niemandem bei der Stellensuche. Es ist nur ein Ausgangspunkt. Viel wichtiger ist zu verstehen, wie das System funktioniert. Das ist es, was die veränderungsorientierte Erwachsenenbildung zu erreichen versucht.
Nehmen wir an, Sie haben verstanden, wie das System funktioniert, wie kommen Sie zu dem Punkt, an dem sich die Dinge tatsächlich ändern? Ich nehme an, dass die Stellensuche nicht automatisch auf Veränderung ausgerichtet ist, auch wenn man das System begreift.
Das stimmt, die Stellensuche mag den Arbeitsmarkt nicht verändern, aber wenn Sie das System verstehen, werden Sie in der Lage sein, Ihre eigene Situation zu verändern, was sich sehr wohl auf Ihren sozialen Kontext und Ihr berufliches Umfeld auswirken kann. In der Praxis erfordert der Schritt vom tiefgreifenden, veränderungsorientierten Lernen zum tatsächlichen Wandel oft verschiedene Arten des Lernens. Es braucht Gruppendiskussionen, Dialog, in vielen Fällen auch Einzelberatung. Dafür steht eine breite Palette von Methoden zur Verfügung.
Wie sieht es mit dem selbstgesteuerten Lernen aus? Im Zusammenhang mit der Digitalisierung scheint dieses Konzept immer beliebter zu werden.
Ja, ich weiss, viele Menschen sind der Ansicht, selbstgesteuertes Lernen werde mit der Digitalisierung an Bedeutung gewinnen. Aber das ist ein sehr altmodisches Verständnis von Erwachsenenbildung. In den 1980er und 1990er Jahren gab es eine so genannte humanistische Bewegung. Ihr Credo lautete, dass Menschen generell und insbesondere Erwachsene selbstgesteuert seien und man sie also weder unterrichten müsse noch überhaupt könne. Aber das ist nicht wahr. Erwachsene sind in vielerlei Hinsicht schlechte Lerner.
Als Erwachsenenbildner müssen wir eine aktive Rolle übernehmen. Diese Rolle besteht aber nicht darin, den Erwachsenen zu sagen, was sie zu tun und zu denken haben. Wir müssen mit den Lernenden diskutieren und dafür sorgen, dass in der gemeinsamen Auseinandersetzung verschiedene Perspektiven verständlich werden. Dafür kommen vor allem Gruppenaktivitäten zum Zug, die gemeinsames Lernen und Diskutieren fördern. In solchen Settings können Erwachsene sogenannte “Agency” entwickeln und dann mit Unterstützung der Gruppe auch sehr gut selbstgesteuert lernen. Dieses Konzept unterscheidet sich grundlegend von der altmodischen Idee, Erwachsene würden am besten mit ihrem Laptop in einer Ecke sitzen und sich alles selbst beibringen.
Wenn Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildner den Lernenden helfen sollen, Zusammenhänge und komplexe Systeme zu verstehen, müssen sie diese Komplexität auch selbst begreifen. Verfügen sie über die entsprechenden Kompetenzen?
Wenn Sie in der Erwachsenenbildung veränderungsorientierte Methoden anwenden wollen, müssen Sie diese Kompetenzen entwickeln. Für viele bedeutet dies, dass sie ihre gesamte Philosophie der Erwachsenenbildung ändern müssen. Im allgemeinen, traditionellen Verständnis haben Kursleiter und Ausbilderinnen die Aufgabe, den Teilnehmenden Wissen und Informationen zu vermitteln und sie anzuleiten. Von dieser Idee muss man sich verabschieden, wenn man Veränderungen anregen will. Bei dieser Form von Erwachsenenbildung geht es darum, Diskussionen, Gruppenprozesse und die Entwicklung von Denkweisen zu fördern. Dazu bedarf es Methoden, die Erwachsene zum Nachdenken und Reflektieren über eigene Erfahrungen sowie zu einem vertieften Dialog mit anderen anregen. Wer solche Prozesse in Gang setzen will, muss Fähigkeiten für diese Art der Moderation entwickeln.
Sie sind schon recht lange im Bereich der Erwachsenenbildung und Forschung tätig. Seit wann und warum interessieren Sie sich für eine Erwachsenenbildung, die Veränderungsprozesse ins Zentrum stellt?
Dieses Gebiet ist seit vielleicht 30 Jahren eines meiner wichtigsten Forschungsinteressen, seit meinem Masterstudium und meinem Abschluss im Jahr 1988. Ich war in diesem Bereich hauptsächlich an Universitäten, aber auch in der Bildungspraxis tätig. Darin sehe ich eine alternative Möglichkeit, Erwachsenenbildung zu organisieren. Es gibt sehr traditionelle Wege, um etwa Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt zu entwickeln – was vollkommen in Ordnung ist; wir brauchen das, weil Organisationen ihre Leistung nur erbringen können, wenn ihre Mitarbeiter qualifiziert und in der Lage sind, ihre Arbeit zu erledigen. Aber im Hinblick auf andere Situationen und umfassendere Themen hilft diese Art der kompetenzorientierten, traditionellen Erwachsenen- und Weiterbildung nicht weiter. In diesen Fällen brauchen wir veränderungsorientierte Bildung. Denken Sie an Probleme wie Armut, Ungleichheit und Klimawandel oder, auf der individuellen Ebene, persönliche Krisen und biographische Übergänge. Herausforderungen dieser Art erfordern Lernstrategien, die auf Dialog, reflektierendem Denken und einem tieferen Verständnis der Mechanismen und Zusammenhänge beruhen, in die Sie involviert sind.
Wie hat sich diese Form der Bildung in diesen 30 Jahren entwickelt?
Man kann eigentlich nicht von einer Entwicklung in diesem Sinn sprechen, denn es gibt in der gesamten Menschheitsgeschichte sehr gute Beispiele für Ansätze, die Entwicklungen anstossen wollen. Denken Sie an Sokrates: Mit seinen Fragen half er Menschen, zu verstehen, dass sie Dinge wussten und verstanden, von denen sie geglaubt hatten, nichts zu wissen. Diese alte sokratische Methode ist ein veränderungsorientierter Ansatz. In den 1920er Jahren nutzte Eduard Lindeman die Erwachsenenbildung, um den Menschen in den Slums zu helfen. Er versuchte, sie dabei zu unterstützen, ihre eigene Situation zu verstehen und ihrem Leben einen Sinn zu geben. In jüngerer Zeit, zu Beginn der 1980er Jahre, begannen einige Erwachsenenbildner und prominente Theoretiker damit, veränderungsorientierte Theorien zu entwickeln. Es hat also immer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gegeben, die sich für eine veränderungsorientierte Erwachsenenbildung einsetzten. Und parallel dazu auch Menschen, die sich mit weniger veränderungsbezogene Bildung beschäftigt haben. Zum Beispiel der Verhaltensforscher Skinner, dessen Forschungsinteresse darin bestand, Menschen wie Affen, Hunde oder Ratten zu behandeln und zu trainieren.
Veränderungsorientierte Erwachsenenbildung ist also ein ziemlich alter Ansatz. Glauben Sie, dass sie an Bedeutung gewinnt?
«Ich glaube nicht, dass sich die grossen Probleme lösen lassen, wenn die Menschen und insbesondere Erwachsene nicht lernen, sich anders zu verhalten, zu denken und zu handeln.»
Ja, ich denke schon, in vielerlei Hinsicht. Wir sind in der Gesellschaft und auf globaler Ebene mit enormen Problemen konfrontiert – Klimawandel, Armut, Fake News, Hassreden und so weiter –, die wirklich neue Methoden und tiefgreifenderes Lernen erfordern. Ich glaube nicht, dass sich die grossen Probleme lösen lassen, wenn die Menschen und insbesondere Erwachsene nicht lernen, sich anders zu verhalten, zu denken und zu handeln. Aber das scheint extrem schwierig zu sein. Also ja, absolut, ich denke, dass eine auf Veränderung ausgerichtete Erwachsenenbildung heute nötiger ist denn je.
Im FutureLab-Projekt haben wir eine Menge Materialien und Beispiele für diese Art von Bildung aus sieben Ländern gesammelt (siehe Forschungsbericht). Welchen Eindruck haben Sie von diesen Projekten?
Die Beispiele sind nicht repräsentativ. Sie wurden uns von den Projektpartnern zugesandt und systematisch nach wissenschaftlichen Kriterien gesammelt. Es handelt sich also um eine etwas zufällige Auswahl, aber darunter sind viele interessante Kurse und Projekte, auch aus der Schweiz. Letztere sind offensichtlich im weltweit bekannten demokratischen System der Schweiz verankert. Für mich ist der Einblick in Aktivitäten aus so vielen verschiedenen Ländern sehr interessant. Es zeigt sich aber auch, dass die Beispiele sogenannt radikaler, veränderungsorientierter Erwachsenenbildung in unserer Sammlung recht selten sind. Dies könnte seinen Grund darin haben, dass Personen, die solche radikalen Kurse durchführen, normalerweise nicht mit den traditionellen Bildungsanbietern in Verbindung stehen, die diese Beispiele zusammengetragen haben. Viele von ihnen arbeiten ausserhalb oder am Rande des Bildungssystems.
Muss diese Form von Erwachsenenbildung zwingend ausserhalb des Systems operieren?
Ich denke, Organisationen und Einzelpersonen oder Bürgerbewegungen, die ausserhalb des Systems arbeiten, können solche Lernaktivitäten schneller und innovativer realisieren. Wenn Sie innerhalb einer Universität oder einer Schule arbeiten, sind Sie durch die Regeln, die Gesetze und das Finanzierungssystem, das Ihre Organisation am Leben erhält, gebunden. Und der Bildungsminister ist möglicherweise nicht bereit, diese Art von Kursen zu finanzieren, weil dies seiner Meinung nach nicht Ihre Aufgabe ist. Oder wenn die Finanzierung des Anbieters von der Teilnehmerzahl abhängt, ist er vielleicht nicht bereit, das Risiko einzugehen und etwas Neues, Veränderungsorientiertes zu wagen. Deshalb ist es tatsächlich einfacher, ausserhalb des etablierten Systems zu arbeiten.
Ok, aber dann sind die Möglichkeiten und Wirkungen dieser Art von Erwachsenenbildung ziemlich begrenzt.
Ja, doch es gibt zumindest einige nationale und auch internationale Organisationen, die Mittel für diese Art von Lernaktivitäten bereitstellen. Es besteht eine gewisse Hoffnung. Aber ja, die Möglichkeiten sind begrenzt.
Was würden Sie sich für die Zukunft erhoffen, wenn die Erwachsenenbildung an der Bewältigung globaler Probleme wie den Klimawandel mitwirken soll?
«Es ist höchste Zeit, in Aktivitäten zu investieren, die Erwachsenen helfen, ihr Verhalten in der Welt zu verstehen und zu reflektieren, andernfalls wird das gegenwärtige System zusammenbrechen.»
Ich hoffe, dass internationale Organisationen wie die UNESCO und die OECD verstehen, dass sie diese Art der Erwachsenenbildung mitfinanzieren müssen und ihre Unterstützung nicht auf die arbeitsbezogene Aus- und Weiterbildung beschränken sollten. Diese Organisationen müssen begreifen: Wenn die heutigen Gesellschaften die Herausforderungen des Klimawandels, von Armut, Hassreden und Fake News, Migration, Analphabetismus usw. nicht bewältigen können, wird die ganze Erde in 15, 20 oder 50 Jahren zerstört sein. Es ist höchste Zeit, in Aktivitäten zu investieren, die Erwachsenen helfen, ihr Verhalten in der Welt zu verstehen und zu reflektieren, andernfalls wird das gegenwärtige System zusammenbrechen. Wir befinden uns in einer sehr komplizierten Situation. Nationen und internationale Organisationen sollten Lernaktivitäten, die zu einem vertieften Verständnis komplexer Zusammenhänge beitragen, definitiv mehr Aufmerksamkeit widmen.
Eine meiner Befürchtungen ist, dass Erwachsene aufhören, tiefergehende Dinge zu lernen, und sich mit dem Erwerb arbeitsbezogener praktischer Fähigkeiten begnügen. Oder dass sie überhaupt nicht mehr an Erwachsenenbildung teilnehmen. Heutzutage bildet sich in allen Ländern nur eine Minderheit weiter. Und die Teilnahmequoten steigen nicht.
Wie Sie sagten, situiert sich die veränderungsorientierte Erwachsenenbildung hauptsächlich ausserhalb des Bildungssystems. Könnte sie trotzdem eine wegweisende Perspektive für die Zukunft der Bildung sein?
Ich denke schon. Auf Wandel und Entwicklung ausgerichtete Aktivitäten sind direkt mit der Zukunft verbunden. Und Zukunft ist nicht etwas, das uns zustösst. Zukunft ist etwas, das wir gestalten können. Je mehr Menschen wir in tiefgreifende Lernprozesse und in Entscheidungen über die Zukunft involvieren können, desto besser wird unsere Zukunft sein. Es liegt an uns zu entscheiden, wie wir unser Leben, unsere Nationen, Gesellschaften und die ganze Welt entwickeln wollen.