Wozu es Störenfriede braucht

Demokratische Gesellschaften brauchen hin und wieder Störenfriede, die Bestehendes durcheinanderbringen und damit neue Perspektiven ermöglichen. Einen besonderen Typus des Störenfrieds präsentiert der Philosoph Dieter Thomä in seinem Buch «Puer robustus». Verklären sollte man den «kräftigen Knaben» allerdings nicht, denn er ist eine höchst ambivalente Figur.

Über Dieter Thomä

Prof. Dr. Dieter Thomä ist Philosoph und war von 2000 bis 2023 ordentlicher Professor an der Universität St. Gallen

Eigentlich haben wir ja heute eine ganze Menge Krisen – Klimakrise, Streiks, Migrationskrisen, Hausbesetzungen und vieles mehr – warum plädieren Sie für noch mehr Störungen?

In Zeiten voller Hektik und Hiobsbotschaften gibt es eine grosse Sehnsucht nach Ruhe. Insofern spricht vieles dagegen, die Störung für wünschenswert zu halten. Auch das Wort «Störenfried», das mir so kostbar ist, scheint auf den ersten Blick einen negativen Beigeschmack zu haben. Schliesslich besagt dieses Wort, dass da jemand ist, der den Frieden stört. Wie soll also bei der Bewertung des Störenfrieds etwas anderes herauskommen als ein negatives Urteil?

Also ja, Sie haben recht: Mein Interesse an Störenfrieden steht unter einem gewissen Legitimationsdruck. Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass wir gerade in unruhigen Zeiten versuchen müssen, nicht nur verzweifelt zu strampeln, sondern die weite Perspektive im Auge zu behalten. Wenn man sein Weitwinkelobjektiv aufzieht und über die Befangenheit in der Gegenwart hinausblickt, erkennt man, dass die Geschichte nicht ein einziger Knäuel von Ausweglosigkeiten ist, sondern vielmehr aus Wellenbewegungen und wechselnden Stimmungen besteht. Das heisst auch: Das Bedürfnis nach Ruhe, das durch die Anhäufung von Krisen ausgelöst wird, hat ein Gegenstück, nämlich das Bedürfnis nach Bewegung.

Ich denke da gern an Friedrich Hölderlin, der einmal gedichtet hat: «Fast will mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit» und dem anfügt: «Dennoch gelinget der Wunsch»1. Es gibt manchmal Zeiten der Erstarrung, in denen der Wunsch nach Veränderung hochkommt. Das bringt mich zurück zum Störenfried: Bewegung bedeutet immer auch, dass etwas durcheinandergerät, dass sich Perspektiven verschieben. Bewegung ist eng mit der Störung verbunden. Die negative Bedeutung des Störenfrieds, von der ich vorhin gesprochen habe, muss also um eine positive Bedeutung ergänzt werden. Ersichtlich wird dies, wenn man bedenkt, dass es auch den falschen oder faulen Frieden gibt. Jemand, der diesen falschen Frieden stört, wirkt doch sympathischer, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Sie unterscheiden zwischen Störungen mit produktiven und solchen mit destruktiven Folgen. Mit der Figur des puer robustus thematisieren Sie beide Aspekte. Können Sie kurz skizzieren, wer der puer robustus eigentlich ist? – Die Figur ist ja kein theoretisches Konstrukt, sondern aus der Geschichte hergeleitet.

Am Anfang meiner Überlegungen stand die Entdeckung, dass die Figur des puer robustus in enorm vielen Texten der wichtigsten politischen Denker der letzten Jahrhunderte auftaucht, heute aber vergessen und begraben schien. Das war eine merkwürdige Diskrepanz. Meine Absicht ist es nun, diese Figur wieder in Erinnerung zu rufen, wobei es mir nicht darum geht, das Museum der seltsamen Figuren der Vergangenheit zu vervollständigen. Interessant ist der puer robustus, weil die Menschen im Lauf der Jahrhunderte alle Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Formen von Ordnung und Störung an dieser Figur durchdekliniert haben. Angefangen hat die Geschichte dieser Figur beim englischen Philosophen Thomas Hobbes, der ein grosser Fanatiker der Ordnung und ein grosser Feind der Störung war. Für ihn war der puer robustus – der «sturdy boy» oder, auf Deutsch, der kräftige Knabe – die ultimativ böse Figur. Warum? Weil beim puer robustus zwei Dinge zusammenkamen: die Kindlichkeit, die für Hobbes gleichbedeutend war mit fehlender Vernunft, also mit Dummheit, und die Körperkraft, das Robuste. Ihm schwebte so etwas wie ein grosses Kind vor, das wild um sich schlägt und einfach nicht einsichtig ist. Insofern beginnt die Geschichte des puer robustus damit, dass jemand eine Figur erfindet, die er am liebsten gleich wieder begraben und aus der Wirklichkeit verbannen möchte. Thomas Hobbes wünschte sich lauter Leute, die die Gesetze beachten und sich dem grossen Souverän, dem Leviathan, unterwerfen. Nun ist ihm zwar die Erfindung des puer robustus gelungen, aber nicht dessen Begräbnis.

Denn spätere Denker – Denis Diderot, Jean-Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville, Victor Hugo, Karl Marx, Sigmund Freud und viele andere – haben die Figur des puer robustus aufgegriffen und sehr unterschiedlich interpretiert, wobei das Kindliche und das Kräftige nicht immer negativ verstanden wurden. So verstand z.B. Rousseau das Kindliche als Unverdorbenheit und die Stärke als eine Kraft, die man braucht, um die Welt verändern zu können. Karl Marx sieht seinerseits den Proletarier als puer robustus. Insgesamt lässt sich an dieser Figur zeigen, wie wir in den letzten ungefähr 500 Jahren um das Verhältnis zwischen Ordnung und Störung in der Gesellschaft gerungen haben. Wenn man Bilanz zieht, stellt man fest, dass es falsch wäre, sich nur auf eine Seite zu schlagen. Tatsächlich ist es so, dass jede gesellschaftliche Veränderung in Bewegungen erfolgt, die durch Störung und Wiederherstellung von Ordnung gekennzeichnet sind. Es wurde sogar gesagt, die Demokratie sei die zur Ordnung gewordene Störung – oder die Ordnung, die die Störung pflegt, um nicht zu erstarren. Es kann sich lohnen, in die Vergangenheit zurückzublicken, weil wir damit den Werkzeugkasten für die Zukunft bestücken können.

In Ihrem Buch unterscheiden Sie vier Typen von Störenfrieden: den egozentrischen, den exzentrischen, den nomozentrischen und den massiven Störenfried. Diese sind von unterschiedlichen Zielen und Motivationen getrieben. Kann man ihr gemeinsames Merkmal darin sehen, dass sie von aussen, also von den Rändern her versuchen, eine etablierte Ordnung zu stören oder zu verändern?

Ja, ein Störenfried ist jemand, der am Rande steht. Der sich nicht im Mainstream befindet, sondern sich eher am Ufer oder im Seitenarm bewegt. Die grosse Frage, die sich für den Störenfried stellt, lautet: Wie verhält er sich zum Zentrum, zur etablierten Ordnung, mit der er sich auseinandersetzt? Die Randposition wird vom Zentrum der Ordnung her immer misstrauisch beäugt. Die Pointe ist nun aber, dass die Ordnung an einer Selbsttäuschung leidet, wenn sie meint, alle würden sich immer schon im Mainstream befinden. Eine Ordnung ist kein erstarrtes Gerüst, sondern etwas, das gelebt werden muss. Und gelebt wird sie von Menschen, die sich normalerweise an die Gesetze halten. Diese Menschen sind aber gewissermassen wechselndes Personal. Man darf nicht vergessen, dass es im Laufe der Geschichte permanent zu einem Wechsel der Generationen kommt. Die Menschen wachsen immer wieder neu durch Sozialisationsprozesse in diese Gesellschaft hinein – oder fallen aus ihr wieder heraus.

Die Randposition ist also nichts Ungewöhnliches. Im Grunde tritt jeder Mensch, der geboren wird, erst einmal vom Rande her in diese Welt. Er muss alles kennenlernen, er tut alles zum ersten Mal. Da es in der Gesellschaft diese Art von permanenter Erneuerung gibt, ist auch die Randposition des Störenfrieds nicht ungewöhnlich.

Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass man den Störenfried glorifizieren sollte. Es gibt schreckliche Beispiele für den Störenfried: Querulanten, Verbrecher, Terroristen – die ich in meiner Typologie als massive Störenfriede bezeichne. Dafür ist der Ausdruck Störenfried viel zu harmlos, aber sie stören eben auch. Auf der anderen Seite gibt es aber auch sympathische Vertreter dieser besonderen Spezies. Die entscheidende Frage ist, wie sich das Verhältnis zwischen diesen Randfiguren und der Ordnung bestimmt.

Können Sie das an einem Beispiel zeigen?

Ein negatives Beispiel für den Störenfried ist der sogenannte Trittbrettfahrer, also einer, der sich von aussen ans Tram hängt, um kostenlos mitzufahren. Der nutzt die Möglichkeiten, die ihm der Verkehr einer Stadt bietet, und schmarotzt. Der Trittbrettfahrer verhält sich zur Ordnung so, dass er für sich einen persönlichen Vorteil herausschlagen will, ohne selbst einen Beitrag dafür zu leisten. Die Folgen dieses individuellen Verhaltens sind in den Sozialwissenschaften vielfach untersucht worden, bspw. in Bezug auf die Loyalität und Solidarität im Rest der Gesellschaft: Der Trittbrettfahrer hat eine erodierende Wirkung auf das, was man in der Soziologie oder Ökonomie Sozialkapital nennt. Er untergräbt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Dieser Typ, der nach meiner Klassifikation ein egozentrischer Störenfried wäre, denkt nur an sein Eigeninteresse. Er kümmert sich nicht darum, wie die Ordnung verändert werden soll, sondern will sie nur ausnutzen.

Davon zu unterscheiden ist der Störenfried, der sich offensiv auf die Gesellschaft bezieht, indem er die geltenden Regeln verändern will. Der würde nicht umsonst Tram fahren wollen, sondern sich bspw. fragen, wie viel das Abo kosten soll, wohin das Tram fährt oder womit der Strom hergestellt wird, der das Tram betreibt. Dieser Typus, den ich als nomozentrischen Störenfried bezeichne, hat eine genaue Vision davon, wie die Regeln anders eingerichtet werden sollten. Der will sich nicht an die geltenden Regeln halten, ist aber durchaus bereit, sich an künftige Regeln zu halten, die in seinem Sinne sind. Das sind jetzt natürlich harmlose Beispiele, es gibt wesentlich dramatischere gesellschaftliche Herausforderungen.

Übrigens hat die Schweiz dank Friedrich Schiller einen exzellenten Vertreter des Typus des nomozentrischen Störenfrieds, nämlich Wilhelm Tell.

Tell als einer, der vom Rande kam und schliesslich als Nationalheld im Zentrum angekommen ist?

Ja, das kann man so sagen. Das Interessante an Wilhelm Tell ist, dass er zuerst zum Einzelgänger und zur Randfigur wird. Seine Freunde bitten ihn, bei den Bemühungen um das Abschütteln der fremden Macht mitzuhelfen, aber er will nicht. Wilhelm Tell ist zufrieden als Einzelgänger, was Schiller in der berühmten Zeile ausdrückt: «Der Starke ist am mächtigsten allein». Seine Einzelgänger- oder Randposition erlaubt ihm auch, besonders rücksichtslos vorzugehen. Schliesslich kommt er aber doch nicht alleine durch, er braucht seine Freunde. Anders als andere politische Führer würde Wilhelm Tell nie auf den Gedanken kommen, die kaiserliche Herrschaft abzuschaffen, um sich selbst zum Kaiser zu krönen. Zwar geht es auch bei Wilhelm Tell nicht ohne Gewalt. Entscheidend ist aber, dass er sich am Schluss wieder als einer unter Gleichen in die Ordnung einreiht. Das macht ihn zu einer demokratischen Figur. Dieses Sich-Zurücknehmen ist bei allen demokratischen Störenfrieden entscheidend, seien es nun Vertreter der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Nelson Mandela oder wer auch immer.

Die historische Analyse hat den Vorteil, dass man weiss, was draus geworden ist. Man kann die diversen Störungen und ihre Folgen rekonstruieren. Aber wie sieht es bei den heutigen Störenfrieden aus? Sagen wir bei Figuren, die nicht die Dimension historischer Heldenfiguren haben, wie aktuell etwa im Kontext des Genderdiskurses der non-binäre Autor Kim de l’Horizon: Inwiefern haben solche kleinen Störenfriede das Potential, Denk- und Handlungsmuster zu verschieben?

Da sprechen Sie ein ganz schwieriges Problem an, nämlich die Frage der Bewertung von Prozessen, deren Zeitgenosse man ist. Wie soll man genau bewerten, was jemand gerade tut, solange man nicht weiss, wie die Sache ausgehen wird? Besonders dramatisch sind solche Bewertungsprobleme dann, wenn sehr viel auf dem Spiel steht und auch viel Porzellan zerschlagen wird. Wenn man etwa an die Russische Revolution denkt, kann man sich vorstellen, wie enorm schwierig oder unmöglich es wäre, als Zeitgenosse im Jahr 1917 zu einem historischen Urteil über diese Revolution zu gelangen. Noch dramatischer ist es, wenn man über das Wechselspiel zwischen kollektiven Bewegungen und einzelnen Figuren nachdenkt: Wer bewegt da wen? Werden einzelne Figuren zu einem Aushängeschild einzelner Bewegungen – und sind so in gewisser Weise austauschbar – oder konzentriert sich in ihnen ein Charisma, eine Vorbildfunktion, die nicht von anderen in gleicher Weise übernommen werden kann?

Hier stellen sich also zwei Fragen. Erstens eine philosophische, nämlich die Frage nach der normativen Bewertung von Veränderungsprozessen. Und zweitens stellt sich die Frage nach dem Wechselspiel zwischen herausgehobenen Figuren und breiteren Bewegungen.

Um auf die gegenwärtige Diskussion und das Beispiel, das Sie angesprochen haben, zurückzukommen: Es ist tatsächlich nicht einfach, sich zu orientieren. Im Fall der Genderdiskussion haben wir eine derart breit getragene Diskussion, in der so viele verschiedene Stimmen zusammenwirken, dass es natürlich übertrieben wäre, einer Figur wie Kim de l’Horizon eine Rolle zuzuschreiben, wie man sie – im nachhinein – etwa Martin Luther King in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zuschreiben kann. Das heisst, auf diese Figur ist man nicht angewiesen, um eine bestimmte Diskussion zu führen.

Vielleicht führen solche Figuren aber gelegentlich zu Beschleunigungseffekten. Was die Bewertung der Verschiebungen in der Genderdiskussion betrifft, kann man sagen, dass heute eine gewisse Öffnung erfolgt, die darum ringt, gesellschaftlich mehrheitsfähig zu werden. Ob sich in der Gesellschaft als Ganzes so etwas wie ein neuer Konsens bildet, ist sehr schwierig festzustellen. In Bezug auf die Genderdiskussion scheint mir dies noch längst nicht erreicht zu sein. So ist es in bestimmten Zirkeln selbstverständlich geworden zu wissen, was hinter der immer länger werdenden Liste der LGBTQAI-Kürzel steckt. Für andere gesellschaftliche Kreise ist dieselbe Liste an Kürzeln aber nicht nur unbekannt oder unverständlich, sondern teilweise auch abstossend – weil sie auf Insiderwissen beruht: Entweder du kennst das alles, oder du bist richtig altmodisch. Damit erweisen sich die Vertreter und Verfechter dieser Wortungetüme einen Bärendienst.

Warum?

Weil sie eine gesellschaftliche Öffnung herbeiführen wollen, dabei aber zugleich exkludierend wirken. Sie schliessen jene aus, die nicht an diesen Insiderdiskussionen – die ja auch an bestimmte kulturelle Kontexte gebunden sind – teilnehmen. An diesem Beispiel sieht man, wie schwierig es heutzutage geworden ist, in der Gesellschaft einen übergreifenden Konsens zu erreichen. Dies hat damit zu tun, dass es zu einer Aufteilung der Gesellschaft gekommen ist – in der Schweiz weniger stark als bspw. in den USA, wo in solchen Fragen ein eigentlicher Kulturkampf tobt. Aber auch hier sind wir weit davon entfernt, beim Genderthema von einem neu errungenen gemeinsamen Selbstverständnis sprechen zu können.

Um nochmals auf die Frage des Störenfrieds oder der Störung der Ordnung zurückzukommen: Die klassische Gegenüberstellung, wonach es eine herrschende Ordnung sowie Kräfte gibt, die diese Ordnung verändern wollen, hat sich stark verändert. Vielleicht gibt es diese eine Ordnung gar nicht mehr, sondern nur noch verschiedene Szenen, Sphären, Filterblasen, Echokammern, in denen sich Menschen bewegen. So gesehen, ist es gar nicht mehr so klar, in welche Diskurse eine Person, die etwas verändern will, letztlich eingreift. Möglicherweise erzielt sie in einem dieser Zirkel eine Veränderung, wird aber in anderen Zirkeln ignoriert. Dies bedeutet, dass sich die Störungs- und Ordnungsmuster in der Gesellschaft insofern verändern, als es entweder zum Streit um Meinungsführerschaften kommt oder man sich wechselseitig ignoriert, bestimmte Gruppen also miteinander in Kontroversen geraten oder in Gleichgültigkeit aneinander vorbeileben.

Angenommen, die Gesellschaft ist noch nicht soweit segregiert, dass sie nur noch aus Filterblasen besteht: Woran merkt man, dass ein neues Denk- oder Handlungsmuster tatsächlich in der Gesellschaft angekommen ist und nicht nur in einzelnen Zirkeln?

In manchen Bereichen gibt es klare Kriterien dafür, ob etwas in der Gesellschaft insgesamt angekommen ist und akzeptiert wird. Einfach zu beantworten ist diese Frage dort, wo etwas der Verrechtlichung bedarf. Die Tatsache, dass man etwas regeln muss, es also nicht nur um kulturelle Stimmungen geht, ist ein Kriterium dafür, dass ein Phänomen gesellschaftlich breit akzeptiert ist. Ein prominentes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Abtreibung. Um die Abtreibung wurde – und wird teilweise heute noch – in fast allen europäischen Ländern gerungen. Da sind enorme Konflikte im Spiel. In den USA wird diese ganze Diskussion jetzt sozusagen wieder um ein paar Jahrzehnte zurückversetzt.

In dem Moment, wo es nach langwierigen Diskussionen zu einer gemeinsamen Position gekommen ist, die auch in Recht und Gesetz gegossen werden soll, bekommt die Regelung einen offiziellen Status, der nicht mehr so einfach vom Tisch gewischt werden kann. Trotzdem kann es natürlich weiterhin Gegner dieser Regelung geben.

Bei den sogenannten weichen Themen sieht es anders aus, diese bedürfen meist keiner rechtlichen Regelung. Man sollte aber nicht dem Irrtum verfallen, weiche Themen deswegen für weniger bedeutend zu halten. Themen, die sich der Verrechtlichung widersetzen, können eine enorme Rolle für die Lebensführung von uns allen haben. So kann bspw. die Breitenwirkung von Einstellungen und Lebensidealen, die von herausgehobenen Personen vorgelebt werden, beträchtlich sein. Ein Beispiel dafür ist Taylor Swift mit ihren Millionen von Anhängern. Auch die vorhin angesprochene Kim-de-l’Horizon-Geschichte bewegt sich in diesem «weichen» Bereich.

Wir haben jetzt vor allem über individuelle Störenfriede gesprochen. Wenn man an kollektive Störaktionen denkt, wie man sie bspw. von der Klimabewegung her kennt: Tragen diese tatsächlich zum Umdenken bei – oder gewöhnt sich die Gesellschaft einfach nur an die Proteste?

Das wirft wieder die Frage auf, inwiefern man als Zeitgenosse Bewegungen beurteilen kann, die noch in Gang sind. Bei den Klimaprotesten ist dies besonders schwer einzuschätzen. Letzten Endes findet ein Tauziehen statt: Die Klimaprotestler wollen die Gesellschaft zum Umdenken zwingen und ergreifen dafür provokative Massnahmen. Ihr Wunsch ist letzten Endes aber, mehrheitsfähig zu werden. Sie wollen ja nicht Randfiguren bleiben, die ständig Ärger bekommen. Sie wollen zu Vorbildern werden und den Rest der Gesellschaft auf ihre Seite ziehen. Wenn sie sich nun aber an Strassen festkleben, passiert das Gegenteil: Die Gesellschaft reagiert entnervt und setzt möglicherweise Drohgebärden und Kriminalisierungsstrategien ein, um die Leute wieder ruhigzustellen. Von einem Gewöhnungseffekt kann man da eher noch nicht sprechen.

Letztes Jahr gab es am Kultur- und Kongresszentrum KKL in Luzern einen Vorfall, bei dem Klimaprotestler die Bühne stürmten und grosse Teile des Publikums auf die Störung genervt reagierten. Der Dirigent fand schliesslich einen Kompromiss und liess sie ihre Botschaft loswerden, worauf das Konzert fortgesetzt werden konnte. Solche Geschichten sind typische Schwellengeschichten: Die Klimaprotestler betreten die Bühne, sie stören diese kulturelle Erfahrung und irritieren das Publikum, gleichzeitig sprechen sie ein Thema an, das diese Leute – wenn sie nicht gerade im Konzert sitzen würden – auch beschäftigt. Sie reden also nicht komplett an den Leuten vorbei.

Generell muss man davon ausgehen, dass ein Umdenken nicht von selbst passiert und dass es dafür provokativer Aktionen bedarf. Das ist bei jeder grossen gesellschaftlichen Veränderung in den vergangenen Jahrhunderten so gewesen. Vielleicht muss man einfach damit experimentieren, welche Protestformen sich als besonders erfolgreich erweisen.

Da wir uns mit TRANSIT an Bildungsfachleute richten, würde ich gern noch die Frage aufgreifen, welche Rolle Sie der Bildung im Zusammenhang mit Störenfrieden zuschreiben. Ist Stören etwas, das man lernen und in Bildungskontexten fördern sollte?

Diese Frage treibt mich selbst auch sehr um. Und tatsächlich hat der puer robustus eine Verbindung zur Bildung. Einer der Auftritte des puer robustus in der Geschichte ist Denis Diderot zu verdanken. In seinem Dialogroman «Rameaus Neffe» lässt Diderot einen Kerl auftreten, der als kräftiger Knabe beschrieben wird. Von diesem Kerl, einem ziemlich verrückten Musiker, wird gesagt, er sei so etwas wie ein Stückchen Hefe, das die Gesellschaft in Bewegung versetzt. Die Leistung, die dieser verrückte Musiker erbringt, besteht nun eben darin, Leute zu irritieren, sie durch provokatives Verhalten herauszufordern und aus dem Trott zu bringen. Das ist zwar noch kein Bildungskonzept, diese Geschichte hat aber in einem nächsten Schritt ihren Weg in die Bildungsdiskussion gefunden, und zwar durch einen anderen grossen Philosophen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel lässt in seiner «Phänomenologie des Geistes» Diderots verrückten Musiker auftreten, und zwar in seinem Kapitel über die Bildung.

Warum lässt Hegel diesen schrägen Kerl in seine Überlegungen über die Bildung einfliessen? Die Antwort ist so einfach wie irritierend: Bei Hegel hat Bildung viel mit Entfremdung zu tun. Der Begriff der Entfremdung hat bei Hegel allerdings eine andere Bedeutung als wir sie z.B. von Marx und der Ausbeutung der Arbeiter her kennen. Entfremdung in Hegels Sinn steht für die Versuchung und die Bereitschaft, aus dem Vertrauten herauszugehen, sich einer Erfahrung auszusetzen, die man nicht kennt, in der man nicht zuhause ist.

Zur Bildung im hegelschen Sinn gehört also das Aus-sich-Heraustreten. Jemand, der in sich «verhaust» wäre, sich also in seinem Häuschen verrammelt und da partout nicht raus will, wird aus Hegels Sicht nicht gebildet sein können.

In welchem Sinn ist denn die Erfahrung von Fremdheit eine Voraussetzung für Bildung?

Es geht zunächst darum, sich Erfahrungen auszusetzen, die einem selbst fremd sind. Dann muss man aber auch bereit sein, sich diese Erfahrung zu eigen zu machen, das Fremde also zum Eigenen werden zu lassen – ohne es zu vereinnahmen. In einem so verstandenen Bildungsprozess wird man selbst ein Anderer. Darin besteht denn auch das Ziel, das Hegel mit seinem Bildungskonzept verfolgt.

Diese kleine Geschichte sagt viel sowohl über Bildung als auch über Ordnung und Störung aus. Bildung sollte nicht so eng verstanden werden, dass man sich eine bestimmte Menge von Wissen aneignet. Denn in erster Linie geht es in der Bildung nicht um die Gegenstände des Wissens, sondern vielmehr um die Frage, wie überhaupt die Aneignung von Erfahrung erfolgt.

Wenn man umfassend über Bildung nachdenken will, muss man also eher über Prozesse nachdenken als über Inhalte?

Ja, das würde ich so sehen. Wenn man in diese Welt hineinwächst, die einem erst einmal fremd ist, muss man sich mit ihr vertraut machen. Diese Erfahrung macht jedes Kind, und oft reagiert es auf diese Fremdheit mit Angst, weil es sich nicht auskennt. Nun ist aber dieses Sich-nicht-Auskennen eigentlich der Ausgangspunkt, von dem aus sich zwei verschiedene Wege öffnen: Man zieht sich zurück und versucht sich abzugrenzen, oder man erhält sich seine Neugier und wagt es, sich mit dem Unbekannten vertraut zu machen.

Ludwig Wittgenstein sagte, der Ausgangspunkt seines Denkens sei die Erfahrung des «Ich kenne mich nicht aus». Dieses Sich-nicht-Auskennen ist auch der Ausgangspunkt von Bildungsprozessen. Wenn man den ersten Schritt tut und – nochmals mit Hegel gesprochen – den Mut zur Entfremdung aufbringt, wird die Welt erfahrbar und durchlässig.

Wer sich abwendet und auf den Standpunkt stellt «Damit will ich nichts zu tun haben», baut eine Grenze auf, die er nicht bereit ist zu überschreiten. Wer hingegen dieses «Ich kenne mich nicht aus» annimmt und den Schritt ins Unbekannte wagt, zieht nicht eine Grenze, sondern macht eher die Erfahrung des Übertritts über eine Schwelle.

Ist eine Schwelle letztlich nicht auch eine Grenze?

Schwellen unterscheiden sich von Grenzen dadurch, dass man sie nicht nur überschreiten, sondern sich auf ihnen auch aufhalten kann. Wie bei einem Türrahmen, wo man auf der Schwelle stehen und sich erst einmal an den Ausblick gewöhnen kann, bevor man vielleicht den Schritt auf die andere Seite tut. Eine Grenze ist faktisch ausdehnungslos: Man ist entweder auf der einen oder auf der anderen Seite.

Die Offenheit für das Unbekannte und Ungewisse, die Sie als Bedingung für Bildungsprozesse sehen, ist auch eine Eigenschaft des exzentrischen Störenfrieds, der Ihnen ja unter den Störenfrieden der liebste ist. Ist dieser Typus des Störenfrieds besonders bildungsaffin?

Die exemplarische Figur eines exzentrischen Störenfrieds ist für mich Diderots verrückter Musiker. Das Besondere an diesem Typus ist, dass er nicht gleich mit einer grossen Vision für die ganze Gesellschaft daherkommt. Er ist eher ein Unruheherd, der die Gesellschaft in Bewegung versetzt. Wohin diese Bewegung führen wird, wissen die exzentrischen Störenfriede selbst nicht. Sie wissen nicht einmal, wohin ihr eigenes störungsfreudiges Leben führt.

Der exzentrische Störenfried geht also davon aus, dass sich sein Leben verändert, und dieses Verständnis des Lebens als einer Reise entspricht tatsächlich in weiten Teilen dem Konzept von Bildung, wie man es in der klassischen und auch der modernen Bildungstheorie gefasst hat. In diesen Bildungskonzepten ging und geht es zwar auch darum, sich bestimmte Inhalte anzueignen, die Bildung selbst ist aber als Prozess mit offenem Ausgang gedacht. Das Wesen dieses Prozesses besteht darin, dass man die Welt auf sich einwirken lässt und sich dabei selbst verändert. Wie das Endresultat aussehen wird, lässt sich nicht voraussehen.

Birgt die Betonung von Offenheit in der Bildung nicht auch die Gefahr der Orientierungslosigkeit?

Ja, Offenheit wird tatsächlich oft mit Unschlüssigkeit oder Gleichgültigkeit verbunden. Davor muss man die Offenheit schützen. Auch beim Bildungsprozess würde ich sagen: Ja, das Ende ist offen, aber diese Offenheit bedeutet nicht Beliebigkeit, denn der Bildungsprozess ist ja von einem grossen Ernst geprägt. Man muss sich auf die Welt einlassen, mit ungeheurer Sorgfalt versuchen herauszufinden, was sich da draussen eigentlich abspielt. Dazu gehört so etwas wie Hingabe, Vertiefung, dazu gehören viele Tugenden, die nicht mit einer oberflächlichen Nutzerperspektive vereinbar sind.

Um nochmals Hegel zu zitieren: Bei Hegel heisst es «Arbeit bildet», womit zwei Dinge gemeint sind. Erstens, dass man sich durch den Arbeitsprozess selbst verändert, indem man Erfahrungen macht und an den Aufgaben, die man bewältigt, wächst. Zweitens meint der Ausdruck, dass die Arbeit die Welt verändert; hier geht es um das Bilden im Sinn des Heranbildens und Umbildens. Vertiefung in die Welt gehört also zu den Bildungsprozessen dazu.

Abgesehen davon, dass ich Philosoph bin, bin ich auch begeisterter Handwerker, und als Handwerker macht man permanent die Erfahrung, Aufgaben nur bewältigen zu können, wenn man sich mit Hingabe den Materialien und ihren Besonderheiten überlässt. Dazu gehört eine ungeheure Bereitschaft zur Langsamkeit, zum Sammeln von Erfahrungen. Nur dann wird man am Ende etwas erreichen. Also ja: Der Prozess, in den wir da als Individuum oder als Gesellschaft hineingehen, sollte ein offenes Ende haben, aber diese Offenheit wird erst dann attraktiv, wenn sie mit der Bereitschaft verbunden ist, sich zu vertiefen.

1) Aus der Elegie «Der Gang aufs Land. An Landauer» von Friedrich Hölderlin

Zitierte Literatur:

Dieter Thomä (2016): Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. Suhrkamp