Der Trend hin zu individualisierten Lebensentwürfen stellt die Weiterbildung vor eine Reihe von Chancen und Herausforderungen. Ausbildende und Weiterbildungsinstitutionen sind dazu aufgefordert, sich mit gesellschaftlichen Veränderungen auseinanderzusetzen und vertieft über ihre Praxis nachzudenken. Dieser Beitrag soll als Input für diesen Prozess dienen.
Der Lebensentwurf als individuelles Projekt
Gegen Ende des letzten Jahrhunderts begannen in den Sozialwissenschaften eine Diskussion darüber, inwiefern sich Lebensentwürfe zunehmend individualisieren. Durch die Individualisierung hat der oder die Einzelne immer mehr Möglichkeiten, den eigenen Lebensentwurf zu gestalten und wird dabei weniger durch traditionelle soziale Bindungen und Normen eingeengt (Reckwitz 2018; Sennett 2000). Dabei haben Menschen oft vielfältige Rollen und Identitäten, welche durch individuelle Präferenzen und Werte geformt werden (Beck 1986; Reckwitz 2018). Letztendlich sind sie aufgerufen, sich eine «Do-it-yourself»-Biografie und ein authentisches Selbst zu schaffen (Beck 1986; Giddens 1991; Mills 2007). Dies bedeutet auch, dass das Streben nach Selbstverwirklichung immer wichtiger wird, wobei auch Freizeit, Bildung und Kindererziehung an Bedeutung gewonnen haben (Taylor 1992).
Aufgrund ihrer veränderten Präferenzen und Werte, aber auch gesellschaftlichen Wandels müssen Individuen ihre als Projekte angelegten Lebensentwürfe jedoch kontinuierlich gestalten und anpassen. Dies bedingt auch, dass sie in der «reflexiven Modernisierung» ständig ihre eigenen Lebensentwürfe und die zugrunde liegenden sozialen Bedingungen reflektieren und hinterfragen (Reckwitz 2018; Sennett 2000).
Eine Palette von verschiedenen Lebensentwürfen in der Weiterbildung
Der Trend hin zur Individualisierung von Lebensentwürfen beeinflusst auch die Weiterbildung. Die zunehmende Kontrolle über das eigene Schicksal und die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten führen dazu, dass immer mehr Varianten dafür entstehen, wer an Weiterbildung teilnimmt und wie Weiterbildung in Lebensentwürfe eingebettet sein kann. In der Zukunft dürfte es entsprechend zu einer immer breiteren Palette an Lebensentwürfen und Hintergründen bei den Teilnehmenden kommen. Dies können beispielsweise Personen sein, die für eine längere Zeit nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen, weil sie eine Reise unternehmen, ein eigenes Start-Up gründen, Kinder betreuen oder Freiwilligenarbeit leisten.
Selbstverwirklichung und persönliche Passung
Eine weitere Konsequenz von individualisierten Lebensentwürfen besteht im Streben nach Selbstverwirklichung, das bezüglich Weiterbildung zu einer jeweils individuellen Bedeutungszumessung führt. Weiterbildung soll in den Lebensentwurf passen, den persönlichen Präferenzen entsprechen und die gewählten Werte unterstreichen. Teilnehmende werden sich dabei immer mehr fragen, inwiefern das Erlernte der Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele dient. Die gesellschaftliche Anforderung, den eigenen Lebensentwurf kontinuierlich anzupassen und zu hinterfragen, dürfte den kritischen Blick für Passung, Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit von Weiterbildung zusätzlich schärfen. Als Folge davon könnten beispielsweise zunehmend Forderungen nach individuell auswählbaren Modulen und Querverbindungen zwischen Lernangeboten aufkommen. Weiter dürfte sich diese Entwicklung auch im Wunsch nach einer Vertiefung des Gelernten durch angeleitetes Nachdenken über den in der eigenen Lebenswelt eingebetteten Lernprozess äussern.
Fragen über Fragen
Diese Entwicklungen stellen die Akteure der Weiterbildung vor Chancen und Herausforderungen. Sie sind zu vertiefter Reflexion über den Sinn und Nutzen von Weiterbildung, die Zukunft des Lernens und die Rahmenbedingungen der Weiterbildung aufgefordert. Nebst den Arbeitgebenden und den politischen Institutionen sind vor allem die Ausbildenden und Weiterbildungsinstitutionen betroffen. Folgende Fragen stehen beispielhaft für Chancen und Herausforderungen, die sich ihnen in Zukunft stellen könnten:
- Können wir Heterogenität bei den Teilnehmenden als Quelle von Erkenntnis nutzen?
- Wie können wir mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Motivationen umgehen?
- Können wir die Kompetenzen und Erfahrungen unserer Teilnehmenden in der Entwicklung neuer Angebote nutzen?
- Setzen wir einen Bezug zum Anwendungsfeld in unseren Angeboten voraus oder lassen wir auch Quer-/Wieder- und Neueinstiege zu?
- Wie erkennen wir die Bedürfnisse von Teilnehmenden nach Individualisierung und Standardisierung und wie gehen wir damit um?
- Wie schaffen wir Kohäsion in Lerngruppen in einem individualisierten Lernangebot?
- Wie können wir die Qualität des Lernprozesses in flexibilisierten Lernformen erfassen?
Fazit
Gesellschaftliche Veränderungen wie die Individualisierung von Lebensentwürfen fordern die Akteure der Weiterbildung. Sie sind angehalten, sich auf Veränderungen einzulassen und passende Lernmöglichkeiten zu schaffen. Ein weiter gesellschaftlicher Blick ist dabei nötig, um Reflexion und Vision anzuregen und sich so den Herausforderungen der Zukunft stellen zu können.
Literatur
Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Beck, Ulrich, Anthony Giddens, Scott Lash, und Ulrich Beck. 2019. Reflexive Modernisierung: eine Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Giddens, Anthony. 1991. Modernity and self-identity: self and society in the late modern age. Stanford: Stanford University Press.
Mills, Melinda. 2007. „Individualization and the Life Course: Toward a Theoretical Model and Empirical Evidence“. S. 61–79 in Contested Individualization: Debates about Contemporary Personhood, herausgegeben von C. Howard. New York: Palgrave Macmillan US.
Reckwitz, Andreas. 2018. „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zur Kulturalisierung des Sozialen“. S. 45–62 in Kultur – interdisziplinäre Zugänge. Wiesbaden: Springer.
Sennett, Richard. 2000. Der flexible Mensch: die Kultur des neuen Kapitalismus. München: Goldmann.
Taylor, Charles. 1992. The Ethics of Authenticity. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.