Der Schreiner in mir – oder selbstgesteuertes Lernen im Selbsttest


Im YouTube-Meer nach dem richtigen Tutorial zu fischen, ist gar nicht so einfach, will man sich nicht vom Zufall treiben lassen. Damit selbstgesteuertes Lernen einigermassen effizient ist, sind Kompetenzen nötig, die mit dem Lernziel meist nichts zu tun haben.

Zu meinem neuen Leben auf einer kleinen Insel mitten im Atlantik gehört, dass ich vieles selber mache. So habe ich angefangen, mit Holz zu arbeiten und kleinere Schreinerarbeiten zu verrichten. Das habe ich seit dem Werkunterricht in meiner Jugend nicht mehr getan. Damals hielt ich mich weder für talentiert, noch interessierte mich das Hantieren mit Säge und Schleifpapier sonderlich. Das ist heute überraschenderweise anders.

Ein Schränklein, eine Kiste oder gar einen Klapptisch zusammenzuzimmern, verschafft mir grosse Befriedigung. Das Material fühlt sich gut an, und die Mühe, die ich investiere, wird umgehend mit sichtbaren Resultaten belohnt. Aber natürlich bin ich noch immer kein Meister des Fachs und ständig mit neuen Fragen konfrontiert. Wie bekomme ich ein Bohrloch im rechten Winkel hin? Welche Scharniere soll ich wählen und wie soll ich sie im Holz versenken, dass sich die Truhe nahtlos schliesst? Wie kann ich Tischbeine verstärken, damit der Tisch nicht wackelt?

Dutzende Antworten

Auf all diese Fragen finde ich natürlich Antworten im Internet. Nicht eine, sondern Dutzende. Ich kann mir aussuchen, ob ich mich von einem seriösen deutschen Tischlermeister anweisen lassen will, einem Redneck mit Südstaatenslang oder einem Typen mit Tattoos auf beiden Händen, der stets einfache Lösungen verspricht, dafür aber Maschinen verwendet, die es auf meiner Insel nicht einmal zu kaufen gibt. Ich praktiziere selbstgesteuertes Lernen, allerdings freischwimmend in einem Ozean von Informationen.

Eine ernüchternde Erkenntnis dabei ist: Nicht jedes Versprechen auf eine Lösung wird auch eingelöst – oder ist für mich praktikabel. Die Suche nach geeigneten Anleitungen verschlingt deshalb sehr viel Zeit. Zuweilen ist es unterhaltsam, durch die Kanäle zu stöbern. Es kann aber auch nervtötend sein, minutenlang einem Selbstdarsteller zuzusehen, bis klar wird, dass seine Tipps doch die falschen sind. Inzwischen habe ich gelernt, meine Suchanfragen zu optimieren, habe auch Fachbegriffe gelernt und filtere bestimmte Kanäle von vornherein aus. Trotzdem tappe ich immer wieder in Fallen.

Weniger Handwerk, umso mehr Sprache

Damit ich also mit meiner Handwerkerei auf einen grünen Zweig komme, benötige ich in erster Linie digitale Kompetenzen. Ich muss wissen, wie ich den Algorithmus füttern soll, damit er möglichst brauchbare Resultate ausspuckt.

Vielleicht wird früher oder später Künstliche Intelligenz (KI) etwas zur Effizienzsteigerung der Suche beitragen. Doch gilt auch im Umgang mit einer Dialog-basierten KI, dass die Suche umso präziser verläuft, je genauer ich die Problemstellung beschreibe. Sich mit einem einigermassen schlauen Chat-Bot auszutauschen, hat zunächst mit Handerwerk gar nichts zu tun, mit logischem Denken, der Beherrschung bestimmter Begrifflichkeiten und sprachlicher Ausdrucksfähigkeit umso mehr.

Meine Gehversuche als Handwerker haben mir denn einiges über die Probleme selbstgesteuerten Lernens vermittelt. Auf den ersten Blick scheint das Versprechen der Digitalisierung den Zugang zu Informationen zu demokratisieren und damit einhergehend das Lernen zu revolutionieren tatsächlich zutreffend zu sein. Auf den zweiten Blick offenbart sich jedoch, dass die Voraussetzung dazu neue Kompetenzen sind, die man sich unter Umständen erst aneignen muss.

Man könnte von digitaler Literalität sprechen, ohne die selbstgesteuertes Lernen zumindest mühsam, teilweise auch frustrierend sein kann. Das dürfte auch auf komplexere Sachverhalte als die Wahl des richtigen Schleifpapiers oder die Verwendung einer Kreissäge zutreffen. Dass selbstgesteuertes Lernen formale Kurse ohne weiteres ersetzen kann, erst noch günstiger ist und praktischer, weil jederzeit und von jedem Ort aus machbar, muss deshalb zumindest in Frage gestellt werden. Unter Umständen entpuppen sich die vermeintlichen Vorteile als gemeine Fussangeln.



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