TRANSIT Salon zu Inklusion und Exklusion in Migrationsgesellschaften


Migration prägt die Schweiz zunehmend und erfordert ein neues Nachdenken über gesellschaftliche Identitäten und Gestaltungsmöglichkeiten. TRANSIT lud deshalb zu einem offenen Dialog über Inklusion in Migrationsgesellschaften und die Rolle der Erwachsenenbildung ein.

Migration hat Gesellschaften schon immer geprägt. Die Schweiz ist hier keine Ausnahme. Von einem Emigrationsland hat sie sich seit dem späten neunzehnten Jahrhundert in eine Migrationsgesellschaft verwandelt und ist zu einem der Länder in Europa mit dem höchsten Anteil an Migrantinnen und Migranten geworden. TRANSIT interessiert sich dafür, welche Perspektiven eine zunehmend von Migration geprägte Gesellschaft für die Bildung von Erwachsenen eröffnet. Es stellt sich einerseits die Frage, wie die Erwachsenenbildung dazu beitragen kann, dass Migration als Chance für Gesellschaften wahrgenommen wird und dass die zunehmende Vielfalt als Gestaltungskraft genutzt wird. Andererseits braucht es auch eine Auseinandersetzung damit, wie die Erwachsenenbildung selbst mit Migrationsthemen und mit der zunehmenden Vielfalt umgeht.

Image: Irena Sgier

Vor diesem Hintergrund hat TRANSIT zur Veranstaltung «Inklusion und Exklusion in einer Migrationsgesellschaft: Bedeutung für die zukünftige Bildung von Erwachsenen» eingeladen. Ziel der Veranstaltung war, Einsichten in die Bedeutung von Inklusion und Exklusion in einer von Migration geprägten Gesellschaft zu erhalten und zusammen zu überlegen, was diese für die Bildung von Erwachsenen in der Zukunft bedeuten könnten. Die Veranstaltung fand am 3. Juni 2024 im Community Salon des Colab & Café Auer & Co statt. Die eingeladenen Gäste waren eine bunt gemischte Gruppe aus Personen, die in unterschiedlichen Formen in der Erwachsenenbildung tätig sind und dabei einen Bezug zum Thema Migration haben. Sie wurden aktiv in den offenen Dialog einbezogen.

Gesellschaftskritische Diskussion über Migration und postmigrantische Gesellschaften in der Schweiz

Die Veranstaltung gliederte sich in zwei Hauptteile. Im ersten Teil erzählten zwei ausgewiesene Fachpersonen in einem moderierten Gespräch aus ihrer Forschung und Erfahrung. Ines Mateos ist Expertin für Bildung und Diversität und Gründungsmitglied des Think und Act Tanks INES (Instituts Neue Schweiz). Damir Skenderovic ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg und beschäftigt sich hauptsächlich mit historischer Parteien- und Migrationsforschung. Der Tenor des Gesprächs war gesellschaftskritisch und die beiden Fachpersonen kritisierten den politischen Diskurs in der Schweiz.

Die Diskussion begann mit einer Begriffsauseinandersetzung zur Bezeichnung von Personen mit und ohne «Migrationshintergrund». Ines Mateos wies darauf hin, dass Schweizer und Schweizerinnen, deren Eltern bereits in der Schweiz geboren sind, als Normalität gelten würden. Für sie gäbe es kaum spezifische Begriffe. Für jenen Teil der Bevölkerung, der selbst im Ausland geboren ist oder mindestens ein Elternteil hat, das in die Schweiz eingewandert ist, existierten dagegen verschiedene Begriffe wie beispielsweise «Personen mit Migrationshintergrund». Beide Fachpersonen stimmten überein, dass diese Begriffe unter anderem einer gesellschaftlichen Kategorisierung und Abgrenzung dienten, indem sie eine Zuschreibung mit einem Hinweis darauf, dass eine Person nicht von «hier» komme, lieferten. Es sei deshalb wichtig, sich bewusst zu werden, dass diese Begriffe auch der Exklusion dienen könnten. Gleichzeitig brauche es sie aber, um auf bestimmte gesellschaftliche Ungleichheiten oder Mechanismen aufmerksam zu machen und sie zu benennen.

Ausgehend von dieser Auseinandersetzung mit der sprachlichen Zuteilung von Personen zu Bevölkerungsgruppen, haben Ines Mateos und Damir Skenderovic argumentiert, dass «Personen mit Migrationshintergrund» in weiten Teilen der Schweiz und vor allem auch unter den jüngeren Personen gar keine Minderheit mehr darstellten, sondern immer mehr zu einer Mehrheit würden. Es stelle sich deshalb die Frage, wer wen inkludiere oder integriere. An diesem Punkt der Entwicklung könnte ein Neudenken über Migrationsgesellschaften nötig werden. Aus solchen Überlegungen sei auch die Diskussion um postmigrantische Gesellschaften entstanden. In postmigrantischen Gesellschaften ist Migration ein integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Identität und solche Gesellschaften zeichnen sich durch eine hohe Vielfalt aus, die als Ausgangspunkt für die Gestaltung der Gesellschaft dient.

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Im Kontrast zu dieser Gesellschaftsvorstellung betrachten die beiden Gesprächspartner den dominierenden historischen und gegenwärtige Diskurs über Migration in der Schweiz als mehrheitlich populistisch und polemisch, da er Migration als Bedrohung für die nationale Identität darstelle und stark emotionalisierte, vereinfachende Narrative verwende. Damir Skenderovic betonte mit Blick auf die historischen Parteienforschung, dass Migration dabei oft instrumentalisiert würde, um politische Unterstützung zu mobilisieren und Wählende zu gewinnen. Die Schweiz diene in Bezug auf die Politisierung der Migration sogar als Vorbild für rechtspopulistische Parteien in ganz Europa. Diese Diskussion über Migration schlage sich in der Schweiz in vielen Gesetzen und oft auch im Denken der Menschen nieder. Auch auf Seiten der «Personen mit Migrationshintergrund» könne sie zu Irritation und Abgrenzung führen, weil sie sich beispielsweise fragen, ob das Abstimmungsplakat, das sie tagtäglich sehen, auch sie meine.

Die beiden Fachpersonen wiesen daraufhin auf einen von ihnen wahrgenommenen Widerspruch hin. Trotz des teils populistischen und fremdenfeindlichen Diskurses habe die Schweiz seit mehreren Jahrzehnten aktiv Personen ins Land geholt, die sie im Arbeitsmarkt brauche. Lange seien dies vor allem ungebildete Arbeiterinnen und Arbeiter aus Südeuropa gewesen, die beispielsweise in der Reinigung oder dem Bau gearbeitet haben. Seit Anfang der 2000-er Jahre seien es zunehmend auch sehr gut ausgebildete Personen mehrheitlich aus dem europäischen Raum, die Fachkräftelücken schliessen sollen. Der Kontrast zwischen dem politischen Diskurs und der auf den Arbeitsmarkt ausgerichteten Einwanderungspolitik führe dazu, dass zugewanderte Personen häufig ausschliesslich als Arbeitskräfte, aber kaum als Menschen mit Rechten wahrgenommen würden. Ein Ausdruck dafür sei beispielsweise, dass Personen ohne Schweizer Bürgerrecht ihre Aufenthaltsbewilligung trotz langjährigem Aufenthalt in der Schweiz verlieren könnten, wenn sie kein eigenes Einkommen erwirtschaften könnten.

Damir Skenderovic wies darauf hin, dass diese Haltung auch in der Wissenschaft diskutiert würde und sich dafür der Begriff „welfare chauvinism “ etabliert habe. Welfare chauvinism beschreibt die Haltung, dass die sozialen Wohlfahrtsleistungen eines Staates ausschliesslich den Bürgerinnen und Bürgern eines Landes zugutekommen sollten und nicht den Eingewanderten. Einige Parteien in der Schweiz nutzen «welfare chauvinism» in ihren Kampagnen und förderten so die Vorstellung, dass Einwanderer eine Belastung für das Sozialsystem darstellen.

Insgesamt waren sich Ines Mateos und Damir Skenderovic einig, dass in einem direktdemokratischen Land wie der Schweiz der gesellschaftliche und rechtliche Umgang mit Migration stärker diskutiert und historisch aufgearbeitet werden müsste. Es brauche diese Auseinandersetzung, damit Fehler in der Zukunft nicht wiederholt würden und eine postmigrantische Gesellschaft möglich würde.

Gemeinsame Reflexion mit Bezug zur Bildung von Erwachsenen

Der zweite Hauptteil der Veranstaltung hatte zum Ziel, diese gesellschaftliche Diskussion mit Bezug zur Erwachsenenbildung zu schärfen und Ideen für die Entwicklung der Erwachsenenbildung zu entwerfen. Alle Anwesenden waren aufgerufen den Dialog aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres Wissens mitzugestalten.

Ein zentraler Diskussionspunkt war das Recht auf Bildung. Insbesondere geflüchtete Personen ohne Asylentscheid oder Personen ohne Aufenthaltsstatus haben dieses Recht häufig nicht, auch wenn sie schon lange in der Schweiz leben. Einige Stimmen sprachen von einer politisch gewollten Exklusion im Recht auf Bildung. Die Anwesenden waren sich aber einig, dass Bildung unter allen (aufenthaltsrechtlichen) Umständen wichtig wäre. Bleibe eine Person dauerhaft in der Schweiz, so sei Bildung ein Grundstein für soziale und berufliche Teilhabe. Sie könne auch für die psychische Gesundheit wichtig sein, da sie eine Aufgabe und Lebensperspektive mit sich bringe. Verlasse eine Person die Schweiz wieder, sei Bildung eine gute Grundlage für den Aufbau einer neuen Existenz in einem anderen Land.

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Die Erwartungen, die in der Schweiz an zugewanderte Personen gestellt werden, waren ebenfalls ein wichtiger Gesprächspunkt. Grundsätzlich waren sich die Anwesenden einig, dass die grosse Bringschuld, die auf Personen mit «Migrationshintergrund» laste, für das Lernen und für die Teilhabe wenig förderlich sei. Denn sie könne zu einem enormen Rechtfertigungsdruck und einem Gefühl der Fremdheit führen. Insbesondere wurde kritisiert, dass diese Bringschuld je nach sozialem Status der eingewanderten Person unterschiedlich ausfalle. Während beispielsweise ein Uniprofessor mit geringen Deutschkenntnissen kaum anecke, stünden ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter unter einem viel höheren Druck. Obwohl das Erlernen einer Landessprache zwar äusserst wichtig sei, sollten die Lebensumstände und der Bildungshintergrund der Betroffenen mitberücksichtigt werden. Denn diese können erschwerend wirken. Würde die Fokussierung auf die Stärken der Menschen über die Bringschuld und die damit verbundene Defizitorientierung gestellt, wäre in jeder Hinsicht – Lernen der Sprache, Zugehörigkeitsgefühl, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – viel erreichbar.

Aus den persönlichen Erlebnissen einiger Teilnehmenden geht hervor, dass es Personen und insbesondere Lehrkräfte und Ausbildende braucht, die als Förderer und Fördererinnen wirken. Aufgrund dieser Erfahrungen und der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt plädieren sie auch dafür, dass bei der Ausbildung von Lehrkräften und Ausbildenden die Diversitätskompetenz eine zentrale Rolle spielen sollte.

Im Gespräch kamen noch viele weitere Ideen und Visionen zur Sprache. Einige hakten beim Gesellschafts- und Bildungssystem ein, andere bei der persönlichen Solidarität und dem Engagement in Projekten. Zudem wurde auf internationale Leitlinien hingewiesen, die bereits heute Anhaltspunkte für die Zukunft der Weiterbildung liefern könnten.

Ausblick

TRANSIT verfolgt das Thema Future Skills und in diesem Rahmen auch das Thema Migration weiter. Der Think-Tank wird aus den Denkanstössen dieser Veranstaltung zusammen mit den weiteren Analysen und Gesprächen, Perspektiven für die Zukunft der Erwachsenenbildung erarbeiten.

Wir danken allen Anwesenden für ihre wertvolle, konstruktive und inspirierende Zusammenarbeit.

Image: Irena Sgier